Petra

Petra denkt schon seit einiger Zeit darüber nach sich von Ihrem Freund zu trennen. Sie denkt daran, wenn sie den Müll runterbringt, beim Geschirrspülen, abends, im Supermarkt in der Schlange – und manchmal auch, wenn sie ihn küsst. Und jetzt hat sie ein schlechtes Gewissen, weil er ist ja eigentlich wirklich ein klasse Typ und sie will ihn nicht verletzten und eigentlich hat sie ja auch gar keinen Grund sich zu trennen – also keinen relevanten – bis auf ein paar seiner Marotten, aber es geht ja auch darum, wie sie sich fühlt und sie will sich trennen. Am ehesten vielleicht, weil sie Angst hat so zu werden wie ihre Eltern oder einige ihrer Freunde und sie will nicht das Haus und die Kinder und den Hund, also eigentlich weiß sie gar nicht, ob sie das nicht will oder nur die Idee davon scheiße findet, aber auf jeden Fall denkt sie darüber nach sich von ihrem Freund zu trennen, weil, naja, weil… weil sie einfach nicht glücklich ist. Also gut, glücklich ist sie eigentlich schon, sie ist eher unzufrieden, aber eben nicht mit ihrem Freund, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass sie glaubt sich trennen zu wollen, nein, weiß, dass sie sich trennen will, aber nicht weiß warum und überhaupt geht es ja nicht immer darum glücklich zu sein, weil glücklich sein ist ja auch kein Ding, was immer hält – man ist halt mal glücklich und dann eine Weile mehr so neutral und dann wieder glücklich und wenn dann einer fragt, ob man glücklich ist, dann schaut man halt die paar Wochen zurück und sagt, man ist glücklich, aber das heißt ja eigentlich nichts. Petras Freund fragt sie beim Abendessen, ob sie glücklich ist. Sie sagt ihm „nein“. Aber dass das nichts mit ihm zu tun hätte, glaubt sie zumindest – und jetzt ist er natürlich verletzt und sie will ihn trösten, weil sie will ihn ja nicht verletzen, aber es geht ja nicht darum, dass sie ihn verletzen will und… „OK“, unterbricht ihr Freund ihren Gedanken, „liegt das an unserer Beziehung, an mir?“ – „nein“, sagt Petra und meint vielleicht ja, „also ich liebe dich und ich mag unsere Beziehung, aber es ist auch nicht so, dass ich nur wegen dem Job oder meinen Freunden oder so nicht glücklich bin. Ich weiß nicht, warum ich nicht glücklich bin. Muss ich denn glücklich sein?“ Petra meinte das nicht so wütend, wie sie klingt. „Willst du das allein rausfinden oder möchtest du mich da dabei haben?“ Petra ist sich nicht sicher, weil die Art und Weise, wie er das jetzt gesagt hat, und wie gesagt, klasse Typ, aber sie glaubt, er hat Recht, also zumindest Recht damit, dass sie es herausfinden muss und vielleicht… vielleicht auch ohne ihn. „Ich glaub schon“, sagt sie dann, „ich glaub, ich muss das alleine machen“. „OK“, sagt ihr Freund, „ist es in Ordnung für dich, wenn ich dann jetzt erstmal gehe und meine Sachen nächste Woche hole?“ Er ist ja auch wirklich ein klasse Typ, dass er jetzt so geht und nicht mit ihr streitet und vielleicht will sie auch, dass er sich mit ihr streitet, weil jetzt hat sie eigentlich nur ein noch schlechteres Gewissen und jetzt geht er die Tür raus und sie will ihm sagen, dass er toll ist und sie ihn liebt, aber es kommt nichts.

Nachdem Petra genug am Küchentisch geweint hat und ihr Ex seine Sachen holen kam, ruft Petra Heike an, weil das Holz langsam aufgeweicht ist und wahrscheinlich ist es auch besser sich bei jemandem auszuheulen als bei einem Tisch – der kann ja nicht viel sagen und jetzt kommt bald Heike und Petra weiß nicht, ob sie ihr erklären soll, dass sie weint, weil sie jetzt mit ihrem Freund Schluss gemacht hat, oder, dass sie nicht weiß, ob sie glücklich ist und wie sagt man das überhaupt? Heike ist etwas älter als Petra und hat sich vor knapp einem Jahr von ihrem Mann getrennt. Seitdem lebt sie mit ihrem Sohn in einer kleinen Wohnung und jetzt berichtet sie immer von den Typen, mit denen sie schreibt; sie trifft sich nicht unbedingt mit ihnen, es ist irgendwie immer mit denen sie schreibt, außer Thomas, mit dem hat sie sich getroffen, aber der war dann doch in echt ein ziemlicher Lappen und ein schlechter Küsser und Heike hat ja auch eigentlich noch mit anderen geschrieben währenddessen und deswegen war das ja jetzt auch kein so großer Verlust. Sie sitzen jetzt auf jeden Fall in der Küche und Petra sagt ihr, dass ihr Ex – sie mag das Wort nicht, weil sie mag ihn ja noch und er hat ja nichts falsch gemacht und – naja, dass ihr Ex heute da war, um die Sachen zu holen und sie hat eine Woche lang geheult bis jetzt, und langsam tun ihr die Augen weh – sie hat schon Augentropfen genommen, weil die so trocken waren – und sie weiß jetzt nicht so ganz, was los ist, weil wie gesagt, klasse Typ, aber sie ist halt nicht glücklich. Und dann sagt ihr Heike beim Kaffee, dass es auf jeden Fall das Wichtigste sei, dass sie glücklich ist und ihr Ex war ja auch gar nicht so gut und Heike zählt Sachen auf, die sie an ihm gestört haben und dass es ja jetzt gut ist, weil jetzt ist Petra wieder autonom und kann sich ausleben und sie sollten mal wieder richtig einen draufmachen und dass sie sich sicher ist, dass Petra das spätestens dann bisschen besser überwunden hat, wenn sie mal wieder tanzen waren.

Petra weiß, dass Heikes Ex-Mann ein ziemliches Arschloch ist und sie findet es total gut, dass sie sich getrennt haben – das hat sie Heike auch schon so gesagt, in der Phase nach der Trennung, wobei Heike nicht viel aufbauende Worte brauchte, weil irgendwie wollte sie sich schon länger von ihrem Mann trennen, aber mit dem Kind und Haus, und sie arbeiten ja auch in derselben Firma, war das alles schwierig und Heike hat sich dann irgendwann, an einem Sonntag, endlich mit ihm hingesetzt und das alles besprochen und dann war sie ein paar Tage später weg. Aber Petras Ex ist nicht Heikes Mann und sie glaubt auch nicht, dass Tanzengehen wirklich helfen würde, weil sie sind ja nicht in der selben Situation und sie weiß Heike wirklich zu schätzen und ihren Rat, aber sie ist halt nicht Heike. Petra sagt ihr, dass sie unglücklich war oder vielleicht auch glücklich, aber eben irgendwie nicht und Heike sagt ihr, dass sie das versteht, dass diese Sachen manchmal so ungewiss sind und dass sie trotzdem glaubt, dass Petra sich richtig entschieden hat sich dann zu trennen, weil wenn man in einer Beziehung ist, dann kann man das ja auch nicht wirklich herausfinden und jetzt kann sie das alles für sich entdecken, ohne auf ihren Ex Rücksicht nehmen zu müssen. Als Petra aus dem Bad zurückkommt, sitzt Heike am Küchentisch und strahlt in ihr Handy hinein, weil sie gerade mit Nico schreibt und Petra weiß nicht ganz, was sie machen oder wie sie sich damit fühlen soll, deswegen meint sie zu Heike, dass sie ihr dankbar wäre und jetzt aber mal einkaufen gehen muss, weil sie braucht Tempos, und ihr Kühlschrank ist auch ganz leer. Heike fragt dann Petra, was sie kochen wird heute Abend, weil ihr Sohn sitzt ja gerade zuhause und sie muss ja auch noch etwas machen. Als die beiden sich zum Abschied umarmen, meint Heike, dass sie auf jeden Fall am Wochenende ausgehen müssen.

Auf dem Weg in den Supermarkt denkt Petra über Kim nach. Mit Kim war sie vielleicht mal zusammen, als die beiden Teenager waren, also vielleicht, weil das war ja nicht offiziell und sie haben zwar viel Händchen gehalten und sich auch mal geküsst, aber sie haben es jetzt nicht ihren Eltern gesagt oder so, obwohl ihre Eltern das bestimmt wussten, aber die haben auch nichts gesagt. Sie denkt also über Kim nach und dass sie mit ihr glücklich war und fängt wieder an zu weinen, aber diesmal nicht so viel und andere Tränen – und daran, dass sie schon seit Ewigkeiten nicht mit ihr gesprochen hat, weil sie sind dann ja beide weggezogen und das hat sich auseinandergelebt. Petra überlegt, ob sie mit Kim hätte glücklich werden können, weil sie waren ja wirklich unzertrennlich und Petra hat auch manchmal geweint, weil sie sie vermisst hat im Studium, aber sie haben ja noch geschrieben und Kim und sie waren da ja auch in Beziehungen. Aber manchmal hat Petra gedacht, dass es doch eigentlich schön war und warum das nichts geworden ist – es ist wegen ihnen beiden nichts geworden, weil sie erst später verstanden haben, dass sie überhaupt zusammen waren – und ob sie jetzt nicht glücklich wäre, mit Kim. Petra weiß aber auch, dass Kim und sie eben zusammen waren, als sie noch zur Schule gegangen sind und das Leben ist ja jetzt auch anders mit Arbeit und Versicherungen und dieser ganzen Alltäglichkeit, die sie ja gar nicht schlecht findet, eigentlich findet sie ihr Leben ja ganz gut – außer dass sie nicht glücklich ist – und sie lächelt, weil sie an Kim denkt und dass das schön war, aber das ist ja auch nicht heute und wahrscheinlich wäre sie genauso unglücklich, wenn Kim ihre Sachen abgeholt hätte, also nicht mehr und nicht weniger, sondern irgendwie gleich unglücklich oder zumindest nicht glücklich.

Petra ist jetzt seit einigen Wochen in Therapie. Frau Fischbaum ist super einfühlsam und hat Petra erklärt, dass sie an einer mittelschweren depressiven Episode leidet. Heike hat Petra Frau Fischbaum empfohlen, weil sie ihr total geholfen hat nach der Trennung von ihrem Mann und sie ein halbes Jahr da war und jetzt fühlt sie sich wirklich, als könnte sie endlich das machen, was sie immer wollte, weil sie sich „aus den Zwängen der Vergangenheit“ befreit hat. Frau Fischbaum meint, dass sie wahrscheinlich auch an Kim gedacht hat nach der Trennung, wegen dem Verhältnis zu ihrer Mutter, weil die Beziehung mit ihrem Vater ja nicht so gut war – Petra hat Knoten im Magen. Kurz vorm Ende der Sitzung sagt Petra ihr, dass sie sich einfach keine Zukunft mehr vorstellen konnte und Frau Fischbaum fragt dann „mit ihrem Ex?” und Petra meint dann „nein, überhaupt“, weil sie sich irgendwie so gefangen in der Gegenwart gefühlt hat und Frau Fischbaum sagt ihr, dass das ein Symptom ihrer Diagnose ist. Und Petra fragt sie dann, ob das weggeht und Frau Fischbaum meint zu ihr, dass es wahrscheinlich nur besser wird, aber nicht weggeht.

Petra sitzt nach einer Sitzung mit Frau Fischbaum im Park, so ein kleines Ritual, das sie angefangen hat, mit etwas vom Bäcker und einem Kaffee und schaut auf ihr Handy. Heike hat ihr geschrieben, dass sie mal wieder weggehen sollen – das haben sie einmal gemacht, kurz nach der Trennung, aber Petra war wirklich nicht in der Stimmung und Heike hat die ganze Zeit mit Thomas geschrieben. Petra glaubt nicht so ganz daran, dass Heike ihr hier helfen kann mit der Depression und allem, also Heike schon, aber nicht dieses Weggehen und mit anderen Leuten schreiben und irgendwie hat sie das Gefühl – und selbst Frau Fischbaum hat ihr gesagt, dass sie durch die Trennung ihre Autonomie zurückgewonnen hat – dass es gar nicht darum geht. Petra denkt auch, dass es gut war sich von ihrem Ex zu trennen, aber mehr, weil sie nicht wusste, wie sie damit umgehen soll, dass sie nicht glücklich ist und nicht wusste, wie sie mit ihm darüber redet, weil wenn sie ihm das gesagt hätte – hat sie gedacht – dann würde er bestimmt denken, dass sie wegen ihm nicht glücklich ist und dann hätten sie sich gestritten und dann auch getrennt und das ist ja auch so passiert, mehr oder minder, aber vielleicht hätte das ja auch anders laufen können und sie hätten darüber geredet und dann wär sie in Therapie gegangen und hätte trotzdem noch Alltag gehabt und ihren Freund, aber eben vielleicht auch nicht.

Petra isst ihr Brötchen und trinkt ihren Kaffee und schaut in den Park und denkt zum ersten Mal wieder, dass sie gerade glücklich ist, also sie ist auch traurig, aber der Gedanke daran, dass das vielleicht geht und dass sie unglücklich sein darf, macht sie irgendwie glücklich. Sie glaubt nicht, dass sie nochmal mit ihrem Ex zusammenkommt oder will, oder mit Kim, aber vielleicht in Zukunft mit jemandem, wo sie unglücklich sein kann – und dann ist sie eben unglücklich, aber das ist ja nicht das Ende der Welt. Und der Gedanke macht sie glücklich, dass sie sich selbst unglücklich in der Zukunft sieht und wer dann da ist oder nicht, ist ja auch egal.

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7 Phasen des feministischen Bewusstseins