“Am Ende meint es der Tod persönlich”
Alle Jahre wieder publiziert Joscha Schaback eine Novelle im Dezember. Im letzten Jahr hat er uns pünktlich zu Weihnachten mit der Maschine erfreut – dieses Jahr sind wir begeistert von seiner Erzählung Über den Fluss. Diese ist, wie auch schon im letzten Jahr, mit fantastischen Illustrationen des Grafikers Marek Walczak im Brot & Kunst Verlag erschienen.
Die Maschine bestach noch durch ihre fast unpersönliche Abstraktheit, ließ viel Spielraum für Deutungsversuche, und führte Joscha und mich schlussendlich zu einem agree to disagree auf der Bühne des Romanischen Kellers. Die diesjährige Geschichte Über den Fluss umfasst wieder knapp 100 Seiten, ist wieder etwas surreal, legt den Fokus aber weniger auf sozio-systemische Konflikte, sondern konzentriert sich auf die Charakterentwicklung ihres Protagonisten. Der alte Zahnarzt Forate ist der eigensinnige Erzähler des Stücks, das uns gleich zu Beginn völlig unvermittelt in seinen Zahnarztkosmos kippt:
Ihr Dreier unten rechts war hochkariös, der Rest der Zähne normal, bis auf eine Stelle am Sechser links, eine alte Bleifüllung, die mich hätte stutzig machen sollen. Aber wer nicht richtig hinsehen will, der sieht auch nichts.
Forate erzählt seine Geschichte einem unbekannten Gegenüber. Sie beginnt, als er seine neue Patientin „Andrea“ behandelt – nicht in den normalen Praxisräumen, sondern oben im alten Büro, in das er sie eigens getragen hat. Wieso genau, verrät er uns nicht, und ob Andrea überhaupt „Andrea“ heißt, bleibt rätselhaft, schließlich errät er ihren Namen im beiläufigen Patientengespräch. Immer etwas skurril und bruchstückhaft geschildert, verbringt Foratemehrere Tage mit Andrea und baut dabei ein intimes Verhältnis zu ihr auf. Nach einigem Zögern nimmt er sie sogar zu einem winterlichen Ausflug im Cabrio mit.
Noch in der Garage öffnete ich das Schiebedach des Cabriolets, aber es nieselte bereits und nachdem wir losgefahren waren, musste ich anhalten, um es wieder zu schließen. Andrea saß an meiner Seite. Es war gut, dass dort ein Mensch saß. Der Bann war gebrochen. Nicht sie war das Gespenst, sondern der leere Sitz war es gewesen.
Forate berichtet immer wieder liebevoll über seine kürzlich verstorbene Frau Ulla und befindet sich offenbar in tiefer Trauer. Kennen gelernt hatte er seine Frau auf dem Wasser – im Ruderclub, in den er nur ihretwegen eingetreten war. Wie der Titel des Buchs verrät, spielt der Fluss in dieser Geschichte eine überaus wichtige Rolle. Durch den Neckar wird sie unverrückbar an ihren Ort gebunden; die Gegend um die Alte Brücke Heidelbergs.
Wir sahen zu, wie der Königstuhl an seinen Rändern hell wurde. Es dauert, bis die Sonne den Berg überwunden hat und über den Fluss zu uns kommt. Wir von der anderen Seite, wir auf dem dunklen Heiligenberg, wohnen bei den Schatten. (…) Wer aus der Altstadt über die Brücke geht, der verlässt die Stadt und geht in eine andere Welt.
Der Neckar teilt die Welten Heidelbergs, wie schon der Styx die Welt der Lebenden von den Toten trennte. Fast sämtliche Handlungen der Novelle finden in seinem Dunstkreis statt. Joscha gelingt es, uns den Fluss plastisch, nass und poetisch näherzubringen wie ein eigenes Wesen, ein dynamischer Protagonist.
Durch die feuchte Luft lief ich bis zum Wehr. Ich legte den Kopf auf das kalte Geländer und schaute ins Treibholz. Große Äste kreisten darin, ein Eimer, eine Sandale und zermahlene Borke. Man bildet sich ein, das Treibgut wäre hergekommen, um sich hier zu versammeln. Aber es wartet bloß. Es wartet, bis der Schleuser die Schranke öffnet und Äste, Plastiktüten, Lederbälle weiterreisen in Richtung Meer. Andrea ist auch eine Reisende, dachte ich. Reisende soll man nicht halten.
Mit sachtem Schuldgefühl seiner verstorbenen Frau gegenüber entwickelt Forate eine Art romantische Beziehung zu Andrea, die aber in Anbetracht von Andreas mysteriösem Wesen im Vagen bleibt.
Erwähnte ich, dass sie gänzlich stumm war? Verzeihen Sie, manchmal vergesse ich Details, schon Ulla hat mir das vorgeworfen.
Das Verhältnis ist tatsächlich so befremdlich und einseitig, Andrea als Figur so undurchsichtig, dass die Leserin mit der Zeit beginnt, nicht nur am Verstand des Erzählers zu zweifeln, sondern auch an seiner Unschuld. Joscha zeichnet uns im ersten Teil der Geschichte einen schrulligen und höchst unzuverlässigen Erzähler, dessen Rätsel wir lösen wollen – und zwischendurch schon schlimmste, wenn auch unbestimmte, Befürchtungen hegen.
Unter der Alten Brücke war das Wasser gelb und rau. Der Wind schob den Neckar stromaufwärts, als wollte er ihn zurück in seine Quelle drängen. Ich hatte das Gefühl, auch die Zeit bewegte sich rückwärts. Ich stellte mir vor, meine Patienten rückwärts zu behandeln und Andrea nicht die Treppe hinauf-, sondern hinunterzubegleiten, als ob sie nie in meinem Leben gewesen wäre und das obere Zimmer immer noch verlassen da läge. Dann läge eines Morgens die tote Ulla im Stuhl und am Abend wäre sie wieder lebendig und am nächsten Tag ein Stückchen gesünder und so weiter, bis wir irgendwann in unser normales Leben zurückfänden. Bitte verzeihen Sie mir diese abstrusen Gedanken, sie zeigen, wie verwirrt ich war.
Dies ist aber keine Erzählung, die eine Tätersicht glorifizierte oder verharmloste, sondern sie spielt bloß gekonnt mit der Erwartungshaltung der Leserin. Gerade über ihren Mittelpunkt gekommen, nimmt die Erzählung die aufklärende und ersehnte Wendung. In Wahrheit ist dies eine Geschichte über Liebe und Verlust, die sich dem Thema auf äußerst einfühlsame Weise nähert.
Nicht nur diejenigen, die das Neckarufer kennen, werden sich in der Spiegelung der Wasseroberfläche wiederfinden, die Marek in seinen Zeichnungen so wunderbar eingefangen hat. Auch in diesem Werk gelingt die raumerweiternde Kommunikation zwischen Illustration und Text absolut. Joscha zeigt in dieser Geschichte enormes handwerkliches Geschick als Autor – eine Qualität, die wir von ihm angenehm gewohnt sind. Was uns ebenfalls gut gefällt, ist überhaupt das Format der Novelle: eine tiefgründige und intensive Erzählung, die nicht zu lange fackelt, sondern kurz wie poetisch ihren Kern darlegt. Sie kann an einem Nachmittag gelesen werden und hat uns über diese Stunden hinaus bereichert.
Denken Sie, der Tod gehört nur den anderen? Ja, wenn man jung ist, ist man unsterblich. Aber Sie werden sich noch wundern, am Ende meint er es persönlich.
Joscha Schaback: Über den Fluss erscheint im Dezember 2024 im Brot & Kunst Verlag. Definitiv vorzunehmende Vorbestellungen sind hier möglich.
Wir laden herzlich zur Release-Lesung am 20.12.24 im Theater im Romanischen Keller ein! Joscha wird lesen und Mareks Zeichnungen werden ausgestellt (und käuflich) sein. Charlotte von Pigeon Publishing moderiert und Jonas hat die große Freude, die Bar zu tendern. Letztes Jahr hatten wir einen Heidenspaß inklusive Umtrunk an der Bar – kommt zahlreich und stimmt euch mit uns ein für Weihnachten 24!