auf halbem weg

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne. Sie fühlten sich rau an und ich bemerkte, dass ich sie mir schon seit gestern Morgen nicht mehr geputzt hatte. Der Zahnbelag störte mich, doch ich blieb ruhig auf der Veranda sitzen und schaute raus aufs Feld. Mein Lieblingsplatz war schon immer auf der Hollywoodschaukel, die mein Vater, als mein Bruder und ich noch klein waren, dort aufgestellt hatte. Sie hat viel miterlebt. Vorlesestunden von unserer Mutter, Eisessen an heißen Sommertagen, abendliche Gesprächsrunden mit Freunden und auch die Trennung von meinem ersten Freund Jasper. Mein Blick fiel nach rechts auf die Ecke der Schaukel, wo sich eine kleine Macke befand. Wenn ich nervös war, kratzte ich dort die Beschichtung ab und man erkannte, dass die Stelle schon mehrfach übermalt wurde.

Mir lief ein Schweißtropfen von der Stirn. Hier in der Nähe von Odessa war es im Juli immer besonders heiß. Seit Wochen hat es so gut wie gar nicht geregnet und die Maisfelder waren nicht mehr grün, sondern braun. Ich strich mir mit meinem Handrücken über die feuchte Stirn und wischte ihn an meiner Hose ab. Die Innenseiten meiner Beine fingen an unangenehm zu kleben, sodass ich nervös wurde und begann über die Beschichtung der Schaukel zu streichen.

Ein Geräusch brachte mich wieder zurück aus meinem Kopf. Im Haus musste meine Mutter gerade aufgestanden sein. Der Klang der Kaffeemaschine verriet mir, dass sie wahrscheinlich in der Küche stand. Früher haben wir den Tagesbeginn in den Ferien oft zusammen in der Küche verbracht, es gab meistens Müsli und hin und wieder Spiegelei mit Brot. Wenn mein Vater von der Nachtschicht kam und gut drauf war, brachte er vom Bäcker manchmal frische Croissants mit, die wir dann am Frühstückstisch mit einer Menge Butter und Marmelade verdrückten. Mein Magen fing an zu knurren. Ich hätte ins Haus gehen, mich zu meiner Mutter an den Tisch setzen und etwas frühstücken können. Doch ich ignorierte meinen Hunger und blieb draußen sitzen. Die Ruhe, die hier draußen herrschte, wollte ich nicht aufgeben. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln. Hier draußen in der schwülen Hitze zu bleiben, fiel mir leichter als ins klimatisierte Haus zu gehen und mich mit meiner Mutter zu unterhalten. Ich stellte mir vor wie es ablaufen würde, wenn ich zur Tür reinkäme. Guten Morgen mein Engel. Hast du gut geschlafen? Mit einem gezwungenen Lächeln und mit ihren großen glasigen Augen würde sie mich anschauen, um zu versuchen meine Gedanken zu verstehen. Gut, Mom, danke. Heiß heute, aber hier drin ist es aushaltbar. Ich gehe in mein Zimmer und lege mich noch mal hin. Tschüss.

Mit diesen Worten hätte ich sie allein in der Küche stehen lassen.

Seit Monaten verlaufen unsere Gespräche auf diese Art und Weise. Als mein Bruder noch zu Hause wohnte, unterhielt er sich viel mit ihr und sie haben gemeinsam Zeit verbracht, indem sie zusammen gekocht oder irgendeine Krimiserie im TV geschaut haben. Oft haben sie auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen, redend oder schweigend, es war ihnen gleich, was sie taten. Sie genossen einfach die Gesellschaft des anderen.

Aber mein Bruder ist vor drei Monaten zum Studieren nach Dallas gezogen. Mittlerweile ist es häufiger still in unserem Haus und seitdem die Sommerferien angefangen haben, ist es besonders bedrückend. Wir wohnen etwas weiter draußen und die Möglichkeit schnell mal Freunde zu treffen habe ich nicht. Obwohl das auch nicht anders wäre, würden wir in der Stadt wohnen. So richtig Freunde, mit denen man sich im Café trifft oder sich abends auf irgendeiner Party einen Joint teilt, habe ich nicht mehr. Wir haben uns voneinander entfernt sage ich, wenn mich meine Mutter fragt. Ich bin gerne zu Hause und für mich allein. Das ist eigentlich gar nicht gelogen, doch bei solchen Aussagen schaut mich meine Mutter mit einem sehr besorgten Blick von oben nach unten an und seufzt. Sie seufzt viel, seit Vater nicht mehr da ist. So drückt sie wohl ihre Trauer aus: durch tiefes Einatmen und kurze, aber kräftige Seufzer.

Häufig machen sie mich nervös. Mir läuft dann ein kalter Schauer über den Rücken und meine Härchen stellen sich auf. Wieso kann sie das nicht für sich behalten? dachte ich mir schon häufig, doch gesagt habe ich es nie.

Es wäre auch nicht fair meiner Mutter vorzuwerfen, sie solle mich mit ihrer Trauer in Ruhe lassen, denn auch sie hat einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren. Wenn ihre Augen meine treffen, sie anfängt zu seufzen und wieder wegschaut, denke ich manchmal sogar, sie würde mich für ihn eintauschen, wenn sie es könnte.

Es ging damals ziemlich schnell und traf uns unvorbereitet. Er hinterließ nicht viel, außer einen Abschiedsbrief an unsere Mutter, den sie uns bis heute nicht hat lesen lassen.

Bei diesem Gedanken kratzte ich noch stärker an der Beschichtung der Hollywoodschaukel herum. In meinem Magen breitete sich noch ein anderes Gefühl als Hunger aus. Schon häufig habe ich mich gefragt, wieso ich keinen Brief bekommen habe. Wieso ich ihren Brief nie lesen durfte. Wieso er mich einfach verlassen hat, ohne sich zu verabschieden und mich auf dieser Welt ganz allein lies. In Erinnerungen schwelgen tut mir nicht gut, dachte ich und versuchte mich wieder der Beschichtung hinzugeben. Doch meine Stirn zog sich immer weiter zusammen, je länger ich versuchte meinen Gedanken aus dem Weg zu gehen. Und da war er schon wieder. Direkt vor meinen Augen sah ich sein Lachen. Geh weg! Geh verdammt noch mal weg. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Die Hitze machte es unerträglich weiterhin sitzen zu bleiben also riss ich mich von der Schaukel und ihrer Geborgenheit los. Ich taumelte nach vorne und konnte mich gerade so noch am Geländer halten, bevor ich auf den Boden fiel und meiner Mutter damit meinen Standort verraten hätte. Ich versuchte bewusst zu atmen. Meine Hand strich immer wieder übers Geländer, gleichmäßig zu meinem Atem. Die Oberfläche war glatt und doch fühlte ich immer wieder kleine Rauheiten unter meinen Fingerspitzen. Ich beruhigte mich für einen Moment und schaute aufs Feld hinaus. Der Boden hatte durch die lange Trockenheit viele Risse bekommen. Sie erschienen mir wie riesige Schluchten, die mich trennten vom Rest der Welt. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Angst vor Regen und sehnte mich gleichzeitig so sehr danach. Die Tränen kamen zurück und ein Kloß machte sich in meinen Hals breit. Nein, dachte ich. Mit all meiner Kraft, die ich noch hatte, stürmte ich die Treppe der Veranda herunter und lief los. Staub wirbelte unter meinen Füßen auf, doch das gab mir nur noch mehr den Willen weiter zu laufen. Fliehen, um rauszukommen. Raus aus diesem Haus, raus aus meinem Kopf. Ich wurde immer schneller und sprang über die Risse in der Erde. Ich fühlte mich plötzlich wieder wie das Kind von früher. Man darf nicht die Linien berühren, sonst ist man raus! Und da war mein Vater wieder. Sein großes Grinsen, wenn mein Bruder und ich wieder dieses Spiel spielten und versuchten uns gegenseitig auf die Linien zu schubsen. Das irritierte mich so sehr, dass ich keine Kontrolle mehr über meine Beine hatte und das Spiel verlor.

Ich lief weiter die Straße entlang, bis ein scharfes Stechen in der Lendengegend mich zum Stehenbleiben zwang. Ich stützte mich mit meinen Händen auf die Knie und schnaufte. Ich schnaufte so laut, dass ich einem Pferd Konkurrenz machen konnte. Dieser Gedanke ließ mich schmunzeln. Plötzlich überkamen mich so viele Gefühle und ich lachte laut los. Mein Seitenstechen schmerzte wie verrückt, doch ich konnte nicht aufhören zu lachen. Scheiß Welt! Du kannst mich mal! schrie ich los. Das Schreien tat so gut, dass ich noch ein kraftvolles Ahhhh hinzufügte, bevor ich mich endgültig geschlagen gab. Dort stand ich nun, ich schätze etwa einen halben Kilometer vom Haus entfernt. Mein Kopf war endlich leer. Mein Körper war erschöpft und meine Klamotten ganz nass vom Schweiß. Die Sonne brannte auf meine Kopfhaut. Ich musste seufzen. 

Ich trottete mit langsamen Schritten zurück bis zur Treppe der Veranda, von der ich eben noch geflüchtet war. Es musste keine zwanzig Minuten her sein, und doch fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Als ich zurückkam, bemerkte ich eine Figur am Fenster stehen, jemand der hinaus, aber nicht mich anschaute. Im Gesicht meiner Mutter erkannte ich nichts. Sie starrte raus auf die vertrockneten Felder und ihr Blick schien leer zu sein. Die Treppen zu gehen war mühselig, denn meine Beine zitterten. Ich legte mich auf den Boden der Veranda und streckte die Arme und Beine so weit wie möglich von meinem Körper weg. Es tat gut dort zu liegen.

Die Haustür öffnete sich und meine Mutter trat raus auf die Veranda. Sie blieb nah an der Tür stehen, als ob sie Angst hätte sich zu weit von ihrem Zufluchtsort zu entfernen. Ich blieb auf dem Boden liegen und schloss die Augen.

Eine kurze Ewigkeit war es still auf unserer Veranda, nur mein lautes und erschöpftes Atmen war zu hören. Die Stille hielt an, bis ich hörte, wie sie sich langsam hinsetzte. Das Knarren der Holzplanken unter ihrem Gewicht war mir so vertraut. Ich öffnete die Augen nicht, lauschte nur. Ich weiß, du willst nicht reden, sagte sie leise. Ihre Stimme klang rau, als hätte sie selbst eben erst geweint. Ich auch nicht. Aber ich will nicht, dass du denkst, du bist allein in dem, was du fühlst. Ich schwieg. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Kein Seufzen, keine großen Augen, die mich zu durchschauen versuchten. Nur diese Worte, die zwischen uns in der heißen Luft hingen. Es tut mir leid fuhr sie fort. Für alles, was dir fehlt. Für alles, was ich nicht sagen oder tun kann, um es besser zu machen. Ihre Stimme brach. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Worte, die ich mir erträumt und gefürchtet hatte. Plötzlich fühlte sich mein Magen schwerer an als die drückende Hitze um uns herum. Mir wurde schlecht und mir fiel auf, dass ich schon lange nichts mehr gegessen hatte. Das Knurren meines Magens war so laut, dass sie es hören musste. Ich richtete mich langsam auf und schaute sie an. Sie hielt meinen Blick nicht fest, starrte weiter hinaus aufs Feld. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hab Hunger war das Einzige, das ich sagen konnte. Wollen wir beim Bäcker Croissants holen gehen? Wie früher. Ich habe gestern frische Marmelade gekocht. Ich nickte, und ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Sie stand auf und streckte mir die Hand hin. Die Fahrräder stehen im Schuppen. Ich starrte einen Moment auf ihre Hand und ergriff sie schließlich doch. Es war ein komisches Gefühl und ihre Haut erschien mir gleichzeitig vertraut und fremd.

Wir stiegen auf unsere Fahrräder, die im kleinen Schuppen hinter unserem Haus standen, und fuhren los. Die Sonne brannte weiter, doch der Fahrtwind kühlte meine erhitzte Haut. Meine Mutter fuhr ein Stück voraus, und ich beobachtete, wie sich ihre Haare in der warmen Brise bewegten. Irgendwann drehte sie sich zu mir um, lächelte leicht und schaute mir in die Augen. Ich erwiderte ihren Blick und fuhr schneller, um sie einzuholen.

Die Felder zogen an uns vorbei, und für einen Moment fühlte es sich an, als wären wir auf dem Weg zurück zu etwas, das wir beide vermisst hatten, auch wenn wir nicht wussten, wie es genau aussehen würde.

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