Berg
Es war Winter, und er hatte mich ermutigt, als ich das Bergsteigen ausprobierte. Der Berg schien, nach allgemeiner Ansicht, gut zu bewältigen. Wenn man jung war und gesund, und das war ich, war wie sie. Die Aussicht, sagten sie, du wirst es lieben! Ich liebte einen aus unserer Wandergruppe, er hieß Martin. Zwei Freundinnen waren dabei, zwei Linas, sie lachten und plauderten beim Aufstieg, es war kalt, ich zog meinen Mantel enger um mich. Nichts war an mir falsch, vielleicht bis auf die Stiefel, deren Absätze etwas geeigneter hätten sein können, und die Kleidung wetterfester, wenn es davon eine Steigerung gibt.
Wir trafen uns wie zufällig, heimlich. Sahen uns von Weitem. Lächelten uns an in der kleinen Bar, die über die Straße. Unsere Freunde nannten unsere Namen im Gleichklang. Martin und ich benannten das nicht: Weder die Nächte in seiner Dachwohnung, morgens machte er mir Kaffee in einem Kännchen, das er aus diesem sensationellen Urlaub mit Freunden mitgebracht hatte … -- Noch die Tage bei mir, in meinem Zimmer mit der Matratze am Boden, den Büchern und abblätternden Postern. An unserer Stadt mochte er nur die Natur. Und den Berg. Nichts sei schöner, als auf der Anhöhe zu stehen.
Wir waren schnell in größerer Höhe. Er und sein Freund Tim ganz vorn. Groß waren sie, ihre Schritte voller Kraft. Sie wurden überholt von den beiden Linas, und es war ein Spaß, der Weg wand sich hinauf, eng und verschneit, unter uns Wald, Zweige, filigran und mit schwerem Schnee belastet, doch sie brachen nicht, und mal lagen die Männer vorn, mal die Frauen, zu denen ich anfangs noch gehörte.
Hatten sich in der ersten Stunde noch alle mit mir unterhalten, mir die Vorzüge des Bergwanderns auseinandergesetzt, wurden sie bald, ohne Absicht, schneller: Konnten nicht anders! Nicht künstlich langsamer!
Am Abend zuvor hatte Martin belegt geklungen. Wir lagen vor dem Computer und sahen uns alte Filme an, Screwballs, in denen immer alles ganz leicht aussieht.
Rechts der Berg, mächtig und steil. Unser Weg war machbar, nicht die höchste Wanderstufe. Und der Tag: hell, kristallklar, wie scharf geschliffen. Martin, der Mann, den ich liebte, vielleicht waren wir sogar ein Paar, fasste mich am Arm. Das schaffst du!
Dass er mich aufregend fand, wusste ich von seinem Freund Tim, der Martin jetzt zu sich zog, er lachte mir zu, muss ihn dir mal entführen! Vielleicht, dachte ich, sprachen sie wieder über mich.
Was ist das mit ihr, wie geht es weiter?
Und ich stellte mir Martins Grinsen vor und ein Zögern und ein Blick nach unten und nach hinten zu mir. Aber die beiden ließen sich nichts anmerken, gar nichts. Sie liefen sehr sicher und gerade weiter nach oben, durch den frischen, unberührten Schnee.
Hinter der Biegung verschwanden die Männer, dann die Frauen. Ihre Schritte ließen es nicht anders zu, sie hatten einen Lauf, liefen einfach, es war keine Absicht, sie mussten, der Schnee knirschte unter ihren Schritten, dieses feste Weiß, waren sie fort.
Wald, so dunkel wie nie gesehen war da, ein Rauschen, es hatte zu schneien begonnen.
Es webte um mein Gesicht, die Flocken berührten es, ich trug eine zu dünne Mütze, mein Gesicht wurde taub, schmerzte, selbst schuld.
Wie lange lief ich weiter ohne sie, eine halbe Stunde schon, oder länger? Ich fiel aus der
Zeit, lief, es ging hoch, höher, es gab nur einen Weg, kannst es nicht verfehlen. Auf meine Schritt konzentrierte ich mich, einer vor den anderen, mein Laufen knirschte, wurde mühsamer, weiter, sagte ich mir, immer weiter, sagte mir etwas vor: Wird schon. Oder: Ein Stock ein Hut ein Regenschirm. Versuchte, nicht nach unten zu sehen, wo das Tal lag, eine Kontur, unsere Stadt, das ganze Leben, das ich, das wir hatten, unterteilt in Parzellen, helle und dunkle.
Martin hatte mir nach dem Film von der neuen Stadt erzählt, in der es auch einen Berg gab, viele sogar, sie lag weit weg, da würde ich es sicher mögen. Während er es erzählte, hatte er mich so angesehen, und ich hatte Wein in mich hineingekippt, und dann hatten wir uns auf die Decke fallen lassen, ich hatte bemerkt, dass seine Hände sich nicht wärmen ließen.
Hey, rief ich jetzt. Sie mussten doch kommen, nach mir sehen! Er musste doch wissen wollen. Kläglich, klagend. Vorher noch: aufregend, aber alles, was an mir aufregend war, funktionierte hier, in der Natur, nicht, hier war ich reduziert, klein, nur: Ein sich mühsam bewegender Punkt auf der Karte.
Dass ich nicht wüsste, hatte ich gesagt. Ob ich weg von hier. Ich war hier ich, ich hing an diesem Ort mit seinen Gassen und Kneipen, mit dem Fluss. Ja, ich mochte immer Wasser am liebsten, und die Ebene. Vor Bergen hatte ich mich schon immer gefürchtet.
Hab keine Angst, hatte er gesagt.
Der Moment, wenn alles kippt. Eisig wird.
Suchten sie mich? Hörte ich ihre Stimmen? Immer wieder kams mir so vor, hinter der nächsten Biegung. Dort war Gebüsch, waren Steine, Stimmen, aber das war Wind, der hängenblieb, sich vervielfältigte.
Niemand war mehr da. Mein Atem ging rasselnd, ich zitterte, ich lief und lief, und alles war endlos.
Alle hatten sich entfernt.
Alles rückte in die Ferne.
Der Schnee, der Wald, der Berg.
Dann kamen auch keine Laute mehr aus meinem Mund, ich rief nach niemandem mehr, meinte niemanden. Meine Gedanken schrumpften, erkalteten, versteinerten: Kiesel, die im Wind hin- und her rollen.
Auf allen Vieren war ich. Keine Handschuhe. Mütze durchweicht, eng am Kopf.
Herzklopfen. Dann war ich da – ganz oben.
An den Gipfel erinnere ich mich nicht. An keinen Ausblick, keine Fahnen, nicht den Moment, als ich die Schwelle überschritt. Gestalten, da war jemand – vor der Aussichtsplattform. Nach und nach schälte sich alles aus der Dunkelheit, wurde kenntlich.
Ach, da bist du! Sie lachten. Sahen gut aus, ein bisschen erschöpft, in ihren Parkas, Ledermänteln, teuren Umweltjacken, mit den Bommelmützen, Wollkappen, dicken Schals, tranken Tee aus einer Thermoskanne, boten mir welchen an. Martin kam auf mich zu, Test bestanden, er grinste, fand mich anziehend, sagte er später, so durchlässig, wie Eis oder Glas, zog mich zu sich, wir würden an diesem Abend noch miteinander schlafen, und er wollte, dass ich ihm zeigte, wie ich gekrochen sei, kurz vor dem Gipfel, wie ein Tier, ja? Am Morgen kochte er Kaffee.
Unsere Bergwanderung war beendet, wir standen noch einen Moment ganz oben, liefen dann alle, auf einmal, auch ich, rannten beinah, ein Stück den Berg runter, da war eine Haltestelle, und durch den Schnee sah man jetzt den Bus, seine Scheibenwischer, sein Schnaufen, wie er sich heraufwand zu uns, die Lichter. Wir klopften die Kleider ab, stampften auf, um unsre Schuhe vom Schnee zu befreien, saßen schließlich, die Landschaft zog vorbei vorm Fenster, zusammen, ganz nah er und ich, der später, einige Wochen danach und erst nachdem ich mich nicht mehr gemeldet hatte, mit einer der Linas zusammenkam, mit der, die mehr lachte.
Seine Hände ekelten mich schon im Bus, und einen Moment rückte ich ab von ihm, auf einen Fleck im Sitz, eine unbestimmte Kuhle. Vor uns lag die Stadt. Der Berg riesig und nackt trotz des Schnees, uns im Rücken.