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Also lief ich und lief ich am Rhein entlang und fand keinen Ort, der mir zum Wildcampen geeignet erschien. Der Rucksack wog schwer auf meinen Schultern und irgendwann beschloss ich, dass ein hinter der Böschung verstecktes Auffangbecken als Lagerplatz geeignet genug sein musste. Es war noch früher Abend und da ich die Zeit zum Schreiben nutzen wollte, ließ ich mich auf einem großen, kantigen Stein am Ufer nieder und setzte den Stift an. Ich setzte den Stift an und die Tinte drückte durch und ich fragte mich, warum ich es für eine gute Idee gehalten hatte, ein in Leder gebundenes Vintage-Buch mit Seiten aus Baumwollpapier für eine gute Idee zu halten. Die Tinte drückte durch und jedes Wort überschrieb ein anderes, als könnte jener Tagebucheintrag auch genauso gut der nächste sein, oder der davor. Und ich sah verärgert über mich selbst vom Buch auf und ich erspähte etwas am Ufer. Etwas Totes erspähte ich am Ufer und es schwamm an der Wasseroberfläche, den aufgeblähten, weißen Leib gen Himmel gestreckt, eingekeilt zwischen Treibgut und einer Cola-Dose. Da fehlen einem natürlich die Worte. Etwas Totes hatte ich erspäht und fühlte mich so, als müsste ich etwas tun: es aus dem Blickfeld schaffen, vielleicht, oder weiterlaufen, oder zurück, und die Tinte hatte durchgedrückt und ich hatte etwas Totes erspäht und starrte auf den Fischleib, bis ich zwei Stimmen hinter mir hörte.
„Ha du, was isch’n des?“
„Woiß i net, aber’s isch dod. Isch des a Wels?“
Hinter mir auf der Promenade standen zwei alte Männer in Softshelljacken, und sie klappten ihre Fahrradständer aus und sie verschränkten ihre Arme vor der Brust und streckten ihre Bäuche heraus und sie analysierten die Lage mit Stimmen, die nach Bier klangen, nach Bier und jahrelanger harter Arbeit und Bratkartoffeln mit Speck jeden Dienstag und Donnerstag.
„Hajo, Gunther, ich glaab scho, des isch a Wels, abr der isch doch ganz weiß!“
„Recht hosch, normal sin die doch braun. Glaubsch du, des isch a Dingsymbol?“
„Ha noi, schwätz doch koi Quatsch.“
„Alla. Abr jetzt isch‘r dod und ans Ufer geschwemmt worre. Was macha mir do?“
„Du, wenn der do liegt, müsse mir die Polizei rufe, sonschd komme die Hornisse und für die schmeckt des ja süßlich, des Verweste do hanne, und dann hemma aber ganz schnell n Problem! Hee! Du do drübbe! Junger Mann! Kannsch du de Wels ins Wasser schubbse?“
Etwas Totes hatte ich erspäht und einem Gespräch gelauscht und die Tinte hatte durchgedrückt und keine zwei Minuten später balancierte ich, den Anweisungen der alten Männer folgend, barfuß über die Steine, balancierte über die Steine am Ufer auf den Wels zu, einen Stock in der Hand. Ich hielt einen Stock in der Hand und blickte auf den Wels, diesen riesigen, aufgeblähten, toten Fisch und ich bekam Angst; ich bekam Angst und wusste nicht, warum, und ich dachte an meinen Urgroßvater, wie er in den letzten Zügen seiner für ihn tödlich endenden Lungenentzündung im Krankenhausbett gelegen und einen lauten Furz gelassen und gelacht hatte, balancierte auf den Wels zu, barfuß über die Steine am Ufer, und ich dachte daran, wie ich ohnmächtig geworden war, damals, vor vielen Jahren im Krankenhaus und ich bekam eine Gänsehaut, ein elektrisierendes Kribbeln fuhr mir durch die Arme und ich wusste nicht, warum.
„Haja, guet machsch du des!“
„Du, bass aber uff, ned dass du no‘fliegsch un uff de Kopf fallsch, und dann sin mia au no schuld!“
„Aah, Hans, halt doch die Gosch, der schafft des scho! Oda willsch du des macha?“
„Ha noi, aber der soll uffbasse.“
Und die Haut gab leicht nach, als wäre der Wels ein Luftballon, und ich rechnete jeden Moment damit, dass sie einfach riss, dass die Haut riss und dass weiß Gott was passierte, dass da weiß Gott was zum Vorschein kam, aber sie riss nicht, und dann löste sich die Leiche und riss die Cola-Dose mit sich und beides schwamm davon.
„Gell, im Film sieht so a Leich no subber aus, aba in der Realität isch des nommol ganz was anners.“
Mehrere Meter schwamm die Leiche, trieb in die Richtung, aus der ich gekommen war und wurde immer kleiner, und die Tinte hatte durchgedrückt. Und die beiden alten Männer und ich, wir sahen ihr nach, und wir erspähten einen jungen Mann. Wir erspähten einen jungen Mann mit einem Stock in der Hand, dessen Rucksack, so sah es zumindest aus, schwer auf seinen Schultern wog, und er stand am Ufer und holte die Leiche aus dem Wasser zu sich heran.
„Hasch des gesehe, Hans? Nur Idioten! Hee! Du Depp do drübbe! Schubs doch de Wels wieder ins Wasser! Wenn des die Hornisse rieche!“
„Der platzt doch eh gleich auf und dann ist’s ganz schnell vorbei!“, rief er zurück.
Und der junge Mann und die beiden alten Männer und ich, wir starrten auf die Leiche am Ufer, wir starrten sie eine Minute an, zwei Minuten, drei Minuten, und die Grillen zirpten. Wir starrten den Wels an und wussten nicht warum, und dann sagte Gunter: „Komm Hans, mir fahre wieder!“ Und dann klappten sie die Fahrradständer ein und der junge Mann warf den Stock in den Rhein und lief in die andere Richtung fort, und da nichts Weiteres zu tun blieb und es dunkel wurde, schlug ich mein Zelt auf. Ich nahm den Trampelpfad durch die Böschung und schlug mein Zelt auf und die Grillen zirpten. Die Grillen zirpten und der Sichelmond stand über dem Hochsitz in der Ferne und ich legte mich nieder. Ich legte mich nieder auf die harte Erde und eine Industrieanlage brummte im Hintergrund, und ich dachte daran, wie sich das angefühlt hatte, die Haut des Welses mit dem Stock einzudrücken: Dieser leichte Gegendruck. Die Angst, einen Riss zu erzeugen, als schriebe man auf durchnässtem Papier. Und die Tinte hatte durchgedrückt, das dachte ich noch, und dann schlief ich ein. Und meine Gedanken nahmen mit eine Doppelfigur. Ich schlief ein und meine Gedanken nahmen mit eine Doppelfigur und einen Stock. Einen Stock zum Gehen oder Piksen, und meine Gedanken nahmen mit eine Doppelfigur und einen Stock und eine Autofahrt. Und es war schon dunkel und Mira saß am Steuer, das rote Licht des Autoradios an ihrem Kinn. Und wir rasten mit achtzig Stundenkilometern durch Ortschaften, als müssten wir irgendwo ankommen. Als gäbe es was zu besorgen. Als wäre eine Autofahrt genau das, was wir brauchten, ein Parkplatz vor dem Felsenmeer und alles, was wir rauchten. Sitzend vor den Kirchen lachen, Dreck an unseren Stecken - Purzelbäume, Brombeerbüsche, alles, was wir brauchten. Blütenstaub und deine Wimpern, meine auch und alles; Dielenknarzen, Pinselstriche, Schweigen, was wir brauchten. Galeria Kaufhof und der Bierschaum auf den Tischen, unsere Hände an unsittlichen Stellen, Formbruch, was wir brauchten. Bässe laut und deine Blicke aus dem Fenster trafen / viele Dinge, Unterschiede, Teilung, was wir brauchten. Rasten durch die Orte und Thom Yorke sang irgendwas, als wäre eine Autofahrt genau das, was wir brauchten. Und wachte auf. Und stolperte über die eigenen Gedanken, verstrickte mich in irgendeiner Ahnung, und wusch meine Unterwäsche im Fluss mit Seife, und die Seife roch nach Zitrone. Und kochte mir einen Kaffee, wärmte mir mit der heißen Tasse die Knie und formulierte eine Nachricht an Mira, ohne zu wissen, warum; und wie meine Finger über den Touchscreen wanderten, rechnete ich jeden Moment damit, dass die Nachricht einfach riss, dass die Sätze und Wörter und Buchstaben aufbrachen und weiß Gott was zum Vorschein kam, aber da riss nichts, und dann löste sich die Nachricht vom Eingabefeld und trieb davon. Und die Sterne sortierten sich neu und der Wels lag aufgeplatzt am Ufer und die Tinte hatte durchgedrückt. Und als ich so langsam wach wurde, realisierte ich, dass ich Mira eine Nachricht geschrieben hatte, einer Frau, an die ich seit Jahren nicht gedacht hatte und bekam Angst und wusste genau, warum. Und holte die Nachricht mit dem Finger wieder heran und sah, dass Mira online war. Und wir starrten die Nachricht eine Minute an, zwei Minuten, drei Minuten, und die Grillen zirpten. Wir starrten die Nachricht an und wussten genau, warum, und dann löschte ich sie für alle und lief weiter.