Die Schweine
Sehr verehrter Herr Meltkamp,
erinnern Sie sich an den Wildunfall, zu dem Sie vor über dreißig Jahren gerufen wurden? Sie kamen zur Umgehungsstraße und haben den ohnmächtigen Bock inspiziert, der später im Wald verschwand. Er war meinem Mann ins Auto gelaufen. Sie fuhren uns in Ihrem Dienstwagen nach Hause. Erinnern Sie sich an das letzte Haus am Wendehammer? Ich wohne noch immer dort. Damals warfen Sie einen Blick auf den Garten. Es war schon dunkel und der Nebel stieg aus den Wiesen. Bei Tage blickt man bis zu den Gehöften von Telgte.
Auf meinem Grundstück ist es so still wie früher. Die Bahnlinie liegt weit hinter dem Wald. Nach Einbruch der Dämmerung hören die Drosseln auf zu schlagen. Es wird Sie also nicht verwundern, dass mich – ich jätete auf den Knien Birkentriebe – das Krachen zerberstenden Holzes zutiefst erschreckte. Etwas Großes sprang auf mich zu. Es sah aus wie ein gebogener Schatten, aber das Wummern beim Aufkommen machte mir klar, dass es ein fester Körper sein musste. Er hatte die Wucht eines Geschosses.
Ich möchte zu Protokoll geben, lieber Herr Meltkamp, dass das Wildschwein, das auf mich zuraste, ein weibliches, etwa 150 Kilo schweres Tier war. Auf Kopf und Stirn trug es einen hellen Streifen wie eine Blesse. Vielleicht wäre es ratsam gewesen, mich hinzustellen und mich groß zu machen, Tiere nehmen im Kampf lediglich Umrisse wahr. Hätte ich meine Jacke ausgezogen und über mich gehalten oder wenigstens die Hände erhoben, hätte die Sau vielleicht abgedreht.
Die jungen Leute im Dorf bezeichnen mich gerne als starke Frau. Vermutlich hat diese Bezeichnung etwas mit meiner Kindheit, mit meinem Beruf und mit meinem langen Alleinleben zu tun. Vielleicht umschreiben sie damit aber auch nur mein mitunter schroffes Benehmen. Ich kann es nicht leiden, wenn Spaziergänger am Zaun stehen und lange in den Garten schauen und bitte sie mit klaren Worten weiterzugehen. Sicher habe ich dabei auch schon Männer mit langen Bärten oder Frauen mit schwangeren Bäuchen weggeschickt und übersehen, dass es ehemalige Schüler waren. Von Stärke zeugte das nicht. Und stark war ich auch nicht, als mich die Bache angriff. Als sie auf mich zuraste, war ich ein Haufen Angst.
Obwohl unser Garten an den Wald grenzt – hinter dem Zaun ist nur ein Trampelpfad – hatten wir nie Wild in unserem Garten. Ich erinnere mich lediglich an einen Morgen, als ein Reh auf der Wiese stand. Das Haus war frisch gebaut und es schien, als ob das Reh das Haus zum ersten Mal bemerkte. Als ich mich hinter dem Fenster bewegte, verschwand es und kehrte nie zurück. Sie müssen wissen, dass der Garten zu diesem Zeitpunkt noch Wildnis war. Das Reh hatte guten Grund herzukommen, es war sein Revier. Aber das Schwein? Der Garten vor vierzig Jahren ist ja nicht mit dem heutigen zu vergleichen. Wenn Sie heute auf der Terrasse stehen – der erste Blick in den Garten sollte der schönste sein! – stoßen ihre Fußspitzen bereits an die Hortensien, die ich in blau und violett gepflanzt habe. Weiter hinten kommt der Nutzgarten mit einem kleinen Gewächshaus. Im Süden stehen die Obstbäume. Mein ganzer Stolz aber ist der Rosengarten, der sich hinter dem Teich erstreckt. Er steht von April bis Oktober in Blüte. An heißen Tagen zieht der Duft bis ins Arbeitszimmer.
Die Tiere des Waldes sind es also seit langem gewohnt, dass wir getrennte Reiche bewohnen und einander nicht in die Quere kommen. Warum hatte mich das Schwein aufgesucht? An jenem Abend ließ ich mich auf die Erde fallen und hielt die Arme schützend über den Kopf. Am Boden hörte ich die sich nähernden Hufe. Als die Bache ganz nah war und ich bereits ihren Atem spürte, drehte sie ab. Ich bin mir sicher, lieber Herr Meltkamp, dass mich das Tier töten oder zumindest schwer verletzen wollte. Ich glaube allerdings nicht, dass mich die Sau nur deswegen verschonte, weil ich ihr am Boden liegend so wenig Angriffsfläche bot. Sie hätte mir den Kopf in den Körper rammen oder mich zumindest mit den Hufen verletzen können. Ich glaube, es gab einen anderen Grund, weswegen sie mich einfach liegenließ. Ich war diejenige gewesen, die den Blick zuerst gesenkt und sich klein gemacht hatte. Ich hatte mit der Hand meine Bluse herabgezogen und ihr einem Urinstinkt folgend, meine Schulter dargeboten.
Noch heute, drei Tage nach dem Vorfall, sitze ich noch immer mit zitternden Händen unter der Lampe (bitte entschuldigen Sie meine Handschrift!) und rätsele über mich selbst. Der Schock des Überfalls ist abgeklungen, doch noch immer wühlt mich mein eigenes Verhalten auf: Das Tier hatte kein Recht, in meinen Garten einzudringen und trotzdem habe ich mich ihm unterworfen.
Sehr geehrter Herr Meltkamp,
es ist bedauerlich, dass Sie nicht zurückgeschrieben haben, aber ich habe Verständnis dafür, dass Sie als Leiter des Forstamts mit Eingaben überhäuft werden. Die Schweinepopulationen sind in den letzten Jahren aufgrund des Maisanbaus gewachsen und vermutlich bin ich nicht die Einzige, die darunter zu leiden hat. Bauer Ludbrock hat mir einen Elektrozaun empfohlen, denn die Plage dauert an.
Ich möchte zu Protokoll geben, dass die Bache zwei Wochen nachdem sie in meinen Garten eingedrungen war, zurückkam. Ich schrieb spät abends Briefe und hörte das helle Geräusch, dass Hufe machen, wenn sie über Feldsteine kratzen. Ich sah zuerst einen beweglichen Rücken im Komposthaufen, der dann in den Nutzgarten huschte, sodass die Bohnenstangen wackelten. Schließlich stand die Bache - die helle Stelle am Kopf war deutlich zu erkennen - witternd auf der Wiese. Ich klopfte ans Fenster, riss es auf und machte „ksch, ksch! Kusch dich, du Schwein!“ Die Bache erstarrte für einen Moment, nach einer Weile aber entspannte sie sich und fraß sich weiter durch meinen Garten, als wäre ich eine Krähe, die versehentlich vor dem Morgengrauen Lärm gemacht hat. Diesmal packte mich die Wut. Ich warf zuerst mit dem Tintenlöscher und dann mit der Kaminschaufel nach ihr. Ich muss lächerlich ausgesehen haben, eine alte Frau im Nachthemd mit zerzausten Haaren. Die Bache gab einen herrischen Ton von sich, ging ungerührt zum Laubengang und verschwand langsam zwischen den Rosen. Noch in der gleichen Nacht ging ich an den Eichenschrank, holte die Winchester heraus und putzte sie auf. Mein Vater hat mir noch das Schießen beigebracht. In Schlesien erlegten wir im Winter Wölfe.
Vielleicht habe ich noch nicht deutlich genug klargestellt, was mir mein Garten bedeutet. Ich möchte Sie nicht damit langweilen zu erklären, was es für eine Mühe gekostet hat, das Geld für das Grundstück aufzutreiben und die Behörden zu überzeugen, ein Waldstück als Bauland freizugeben. Ganz zu Schweigen vom Unmut der Bauern, die um ihr Weideland fürchteten. Am Ende gab es sogar noch Unklarheit bei der Zuteilung des Flurstücks, sodass wir fürchteten, unseren Garten zu verlieren. Aber nach dem Kampf mit der Bürokratie fing die Arbeit erst an. Wir brauchten lange, um die Schwarztannen zu roden, die großen Buchen zu fällen, die Birken zurückzudrängen und das Brombeergestrüpp auszurotten.
Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, dass die Zeit vor dem Hausbau ebenso unruhig gewesen war. Ich hatte eine Fehlgeburt erlitten und war in einer tiefen Krise wieder zu Mutter gezogen. Ich weiß nicht, was meinen Mann mehr verletzt hat: Dass ich unsere gemeinsame Wohnung verließ oder dass ich, nachdem ich zurückkehrte, keine Kinder mehr wollte. Ernst war ein einfühlsamer Mensch, aber in körperlichen Dingen auch nur ein Mann. Ich fürchte, ich konnte ihm nie das geben, was er sich wünschte. Ich fürchte, er hat Zeit seines Lebens gehofft, ich würde meine Meinung in Bezug auf Kinder nochmal ändern. Jedenfalls war der Bau des Hauses und die Anlage des Gartens eine Angelegenheit, in der Ernst und ich nach schwierigen Zeiten wieder völlig übereinstimmten. Es war herrlich gewesen, durch die Dörfer zu fahren und alte Kotten zu begutachten, die man hätte renovieren können, und es war herrlich gewesen eines schönen Sonntags beim Frühstück zu beschließen, dass wir selber bauen wollten und dass uns jedes Mittel recht war, einen eigenen Garten zu besitzen. Nach dem Einzug besaß ich das, was man gemeinhin zu einem geglückten Leben zählt, einen Mann, einen Beruf, ein Haus und einen Garten. Und nun soll ich mir gefallen lassen, dass dieses Stück gehegtes und gepflegtes Land von einem Wildschwein verwüstet wird?
Vergangenen Mittwoch war die Bache wieder da. Ich war dabei, im Rosengarten den Charles Austin-Stock zu ersetzen, als mich ein Grunzen ganz hinten im Garten innehalten ließ. Bauer Ludbrock hatte zwar den Zaun wieder einbetoniert und mit Stacheldraht bewehrt, aber nun zwängte sich das große Tier mit schlammbedecktem Bauch durch ein Loch, das unterm Holz zu erkennen war. Ich las ruhig die noch am Boden liegenden Rosen auf, legte sie in den Korb, sicherte die Schere, steckte sie ein und ging langsam ins Haus. Ich ging direkt an den Schrank und holte die Winchester heraus, legte eine Patrone ein, entsicherte und griff das Gewehr fachgerecht am Schaft, um damit auf die Terrasse zu gehen. Die Bache musste mir gefolgt sein, denn jetzt stand sie keine 30 Meter entfernt auf dem Rasen und sah mich an. Der Schuss würde bis nach Warendorf zu hören sein und mir die Polizei aufs Gelände holen. Den Kadaver mit zerschmettertem Gesicht aber – ein einziger Kopfschuss hätte genügt – würden die Beamten in meinem Garten liegenlassen und ich müsste ihn ein oder zwei Tage lang ansehen. All das ging mir durch den Kopf als mein Finger am Abzug lag. Aber weswegen ich nicht durchzog, das war ihr Blick. Die stechenden Augen einer Feindin, aber immerhin die Augen eines Lebewesens, das ahnte, dass der Tod in der Nähe war. Sie duckte sich und verschwand zwischen dem Kirschlorbeer. Ich schoss nicht, lieber Herr Meltkamp, ich setzte mich wieder in die Küche. Vielleicht hat sich mein Schicksal in diesem Moment gewendet, wer weiß das? Das, was ich tat, wird Sie vielleicht weniger verwundern als ich befürchte, denn ich weiß von vielen Gartenbesitzern, die mit der Methode erstaunliche Ergebnisse erzielt haben. Ich will niemanden auffordern, es mir gleichzutun, ich glaube sogar, es ist nicht die beste Methode, sondern nur eine, die dann zulässig ist, wenn die eigene Wehrhaftigkeit schwindet. Als ich in der Küche saß, fiel mein Blick auf die Reste des Gulaschs, das ich zu Mittag gegessen hatte. Ich packte das Fleisch ein, nahm aus dem Keller noch einen Eimer mit Kartoffeln und einen Bund rote Rüben und warf alles an den Zaun. Am nächsten Tag brachte ich Brot, Erdnussbutter und rohe Nudeln. Ich esse selbst immer weniger und besitze ohnehin zu viele Vorräte. Das Mittel ist seltsam, aber es nützte: Weil ich das Futter immer an dieselbe Stelle hinten im Garten warf, kam die Bache nicht näher. Sie trank zwar am Teich, verschonte aber den Rasen und die Beete. Futter gegen Frieden, das war meine stille Verabredung mit dem Tier. Die zerstörten Stellen forstete ich wieder auf. Ich muss zugeben, dass Stauden in alten Suhlstellen gut wachsen. Zerstörung und Ordnung, Tod und Leben liegen in einem Garten eng beieinander. Im September war mein Reich so schön wie früher. Der Oktober war golden und die Bache ließ sich nicht blicken. Manchmal dachte ich, sie wäre weitergezogen.
Sehr geehrter Herr Meltkamp,
nun ist es bereits November geworden. Vielleicht denken Sie, dass sich der Fall erledigt hat, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass dies mitnichten der Fall ist. Im Gegenteil, das Schwein ist gestern ins Haus eingedrungen und es kam nicht allein. Es hat den seitlichen Eingang zum Keller in die Waschküche genutzt, wo schon länger das Schloss defekt ist. Ich war spät zu Bett gegangen - ich hatte am Vorabend Tannengrün für den Adventskranz geschnitten – und wachte von einem Schrei auf, wusste aber nicht, wo er herkam. Hatte jemand um Hilfe gerufen? Das Haus war kühl, ich folgte dem Luftzug in den Keller. Ein Geräusch kam aus der Waschküche, ich sah durch das Fenster in der Tür, dass ich das Licht hatte brennen lassen. Unter der nackten Glühbirne stand die Bache. Was mich mehr überraschte als ihre Anwesenheit war ein zweites Tier. Ein Eber hatte sich hinter der Bache aufgebaut und roch an ihrem Schenkel. Die Bache drehte sich weg und schrie. Ein Quieken, das mir durch Mark und Bein ging, das war das Rufen, das ich bereits oben gehört hatte. Ich hielt die Hand an die Klinke, aber ich war nicht in der Lage, sie zu drücken. Der Eber verfolgte die Bache im Kreis und irgendwann stellte er sie, indem er ihr seinen Kopf auf den Rücken legte. Die Bache verfiel in Schockstarre, die Beine waren durchgedrückt. Der Eber stieg ihr von hinten auf den Rücken und drückte sein Gewicht in sie hinein. Sie machte einen Schritt, einen kleinen Schritt nur, um das Gleichgewicht zu halten, und der Eber setzte mit all seiner Kraft nach. Obgleich sie sich nicht rühren konnte, blieben ihre Augen auf mich gerichtet. Ich hatte den Eindruck, als hätte sie mich herholen wollen. Als sollte ich Zeugin sein. Können Sie sich vorstellen, dass mir das Tier leidtat? Nach langen Minuten der Umklammerung ließ der Eber los und verschwand nach draußen. Ich ging hinein und fand die Bache erschöpft neben der Waschmaschine. Ich hatte den Impuls, sie anzufassen, ja vielleicht sogar sie zu streicheln. Aber soweit kam es nicht. Als ich niederkniete, sprang das Tier auf und lief aus dem Keller.
Ich ging zu Bett und löschte das Licht. Nachdem ich etwa eine Stunde geschlafen hatte, musste ich aufstehen. Die Übelkeit war schon im Hals, ich erbrach mich auf dem Weg zur Toilette. Ich putzte meine Zähne, las eine Illustrierte, versuchte wieder einzuschlafen, aber erst jetzt, wo ich schreibend versuche, die Geschehnisse zu ordnen, geht es mir etwas besser. Morgen rufe ich Bauer Ludbrock an, der mir die Kellertür reparieren wird und die Waschküche von Unrat befreit. Wie ich allerdings mit der Bache umgehen soll, die weitere Mittel und Wege finden wird, ihr Revier zu erweitern, das weiß ich nicht. Ich bin sicher, dass sie wiederkommt. Vielleicht ist sie nie ganz vom Grundstück verschwunden.
Sehr geehrter Herr Meltkamp,
nun ist der Winter gekommen, seit dem neuen Jahr herrscht Frost. Ich muss gestehen, dass es mir seit der Begegnung mit der Bache gesundheitlich nicht gut geht. Das plötzliche Erbrechen ereilt mich noch immer und deswegen bin ich seit Weihnachten ins Wohnzimmer umgezogen. Mein Bett habe ich mir auf dem Sofa eingerichtet. Auf diese Weise muss ich keine Treppen mehr steigen, um ins Bad zu gelangen. Auch kann ich vom Bett aus fernsehen, ein Luxus, den ich nur aus dem Krankenhaus kenne. Und schließlich habe ich hier den besten Blick auf den Garten. Er liegt ganz verschneit und still da.
Beim Vornehmen eines neuen Bogen Briefpapiers habe ich festgestellt, dass ich die letzten zwei Briefe an Sie nicht abgeschickt habe. Nun werden Sie denken, dass die Frauen im Dorf recht haben, die sagen, ich würde vergesslich, aber das ist es nicht. Ich habe Ihnen Dinge über Ernst und mich geschrieben, die mir doch zu persönlich erscheinen. Beim ersten Hinschreiben hatte ich noch gedacht, ich dürfte so persönlich werden, weil Sie Ernst ja noch gekannt haben. Ich meine nicht nur durch den Wildunfall damals, sondern auch, weil Sie ihn ja auch als Mann Ihrer Lehrerin kannten. Ich erinnere mich, dass er Sie auf einem Schützenfest, bei dem Sie sich das Knie wundgeschlagen hatten, sogar nach Hause brachte. Manchmal bin ich versucht, Sie Franz zu nennen, so wie man Sie als Erstklässler nannte, als Sie mit diesem ruhigen Lächeln in meine Klasse kamen. Bitte sehen Sie mir diese Sentimentalitäten nach. Sie wissen, dass man als Lehrerin keine Lieblinge haben darf, aber ich fürchte, Sie sind es gewesen. Mir wäre es nicht recht, wenn dies zu meinen Lebzeiten im Dorf kolportiert würde. Deswegen werde ich diesen Brief genau wie die anderen auf meinem Schreibtisch liegenlassen. Ich weiß, dass Sie, lieber Franz, ihn finden, denn Sie werden in mein Haus gerufen werden, um einen besonderen Fall zu inspizieren. Sie werden sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Vielleicht werden Sie sogar Schuldgefühle entwickeln, aber ich versichere Sie, dass jede Form des schlechten Gewissens unangebracht wäre, denn so, wie es gekommen ist, ist es gut und ein Eingreifen hätte alles zerstört. Aber ich will nicht vorgreifen, sondern der Reihe nach erzählen.
Nach unserer denkwürdigen Begegnung in der Waschküche war die Bache für ein paar Wochen verschwunden. Die erste Dezemberhälfte war warm und das Essen faulte am Zaun und lockte die Ratten an, sodass ich mit den Fütterungen aufhörte. Fast bedauerte ich es, dass die Bache nicht mehr kam, denn ich muss zugeben, dass wochenlang niemand mehr hier aufgetaucht war. Manchmal sind rüpelhafte Gäste doch immerhin Gäste. Ich dachte, dass ich die Bache vergessen würde, so wie ich die meisten meiner Schüler vergessen habe. Gestern Abend aber bewegte sich ein schwarzer Schatten über den Schnee und ich wusste sofort, dass sie es war. In einiger Entfernung blieb sie stehen, sicherlich beobachtete sie mich im Zimmer, wo ich im Schein des Stövchens lag. Als sich die Bache näherte, fiel mir auf, dass sich ihre Silhouette bewegte und erst jetzt erkannte ich, dass ihr dicht gedrängt Jungtiere folgten – die Frucht des Vorfalls aus der Waschküche. Der Blick der Bache an meiner Tür war fordernd. Sicher werden Sie mich verurteilen und Sie haben vollkommen recht, aber bitte bedenken Sie auch, lieber Franz, dass der Teich seit zwei Wochen zugefroren und der Boden steinhart war und dass die Bache seit Wochen kein Futter mehr von mir gefunden und nun eine Schar von sechs (!) Frischlingen zu versorgen hatte. Jedenfalls öffnete ich die Glastür, zog mich ins Bett zurück und bewegte mich nicht mehr. Die Bache wich auf die Terrasse zurück. Dann kam sie doch vorsichtig näher, zögerte auf der Schwelle und trat endlich ein. Ihre Kinder fanden sofort die Salznüsse auf der unteren Etage des Teewagens und die süßen Kraftriegel, die mir der Arzt verschrieben hat. Der schmelzende Schnee in ihrem Fell hinterließ Pfützen auf dem Teppich, die sie dankbar aufleckten. Doch im Großen und Ganzen benahmen sie sich. Nach dem Fressen liefen sie schnell wieder nach draußen.
Ich muss zu Protokoll geben, dass die Bache nun jeden Abend an die Tür kommt. Die Zeit, die die Tiere und ich miteinander teilen, ist nicht leicht. Sie sind völlig aufs Fressen fixiert. Ich habe ihnen die alten Tennisbälle von Ernst hingeworfen, aber anstatt damit zu spielen, haben sie den Stoff abgekaut. Vorgestern haben sie sich alle zusammen niedergelassen. Halb aus Schwäche, halb aus Lustlosigkeit unternahm ich nichts dagegen. Da lagen wir also: Die Rotte auf dem Teppich und ich in meinem Lager aus Decken. Aber es wurde angenehm warm im Raum und ich schlief viel früher ein als sonst.
Seit diesem Abend bleiben die Schweine länger bei mir. Es geht schon einige Zeit so, wie lange genau, kann ich nicht sagen. Ich schlafe viel, manchmal muss ich nach dem Aufwachen auf den Wecker schauen, um mich zu orientieren, ob es morgens oder abends ist. Allerdings bin nicht so schwach, dass ich die Exkremente nicht riechen würde. Heute habe ich versucht, sauber zu machen, aber ich fiel aufs Parkett und muss für eine ganze Weile ohnmächtig gewesen sein. Ich wachte von pochenden Schmerzen in der Hüfte auf. Wie ich ins Bett zurückfand, ist mir nicht erinnerlich.
Jetzt habe ich Schmerzmittel genommen und ich kann meinen Brief an Sie, lieber Franz, im Liegen weiterschreiben. Die Schweine benehmen sich anders seit meinem Sturz. Sie sind unruhig, als würden sie etwas wittern. Eben kam die Bache an mein Bett und betastete mich mit ihrer Schnauze. Mein Widerstand gegen diese Berührung war schwach und wenn ich ehrlich bin, war sie sogar angenehm. Die Kinder dürfen nicht zu mir, obwohl sie wirklich kleine, liebenswerte, Geschöpfe sind. Die Bache hält sie an, vor meinem Lager Halt zu machen. Sie laufen ehrfürchtig darum herum. Aber irgendwann, vielleicht schon morgen früh, wird die Mutter die Unruhe der Kleinen nicht mehr unterbinden können. Die Beinchen werden zucken, sie werden auf das Sofa springen und darauf herumwuseln. Sie werden quieken und sich mit den Schnauzen stupsen und sie werden sich auf mich rollen. Sie werden rege aussehen, lieber Franz. Sehen Sie das Richtige in diesen Tieren, wenn Sie mit Ihren Leuten in mein Haus kommen, sie wollen nur leben. Es kann sein, dass sie versucht haben werden, mein Herz oder meine Lungen zu fressen, solange die Organe noch warm sind. Ich habe sie ihnen gerne gegeben. Schießen Sie nicht, lieber Franz, lassen Sie die Schweine laufen. Wer sind wir, dass wir uns über die Tiere erheben?
Erscheint 2024 als Teil der Anthologie “Stadtlichter”
Draupadi Verlag