In Kinderschuhen

„Graben Sie nicht zu viel in der Vergangenheit.“ Das möchte er mir noch mit auf den Weg geben?
„Ich verstehe, was Sie meinen“, lüge ich. Wir sitzen in seinem Büro. Auf seinem Schoß: deine Akte. Aus Datenschutzgründen darf er sie mir nicht zeigen, aber er beschreibt, wie deine letzten Wochen waren. Er selbst war damals nicht Leiter und hat dich nicht gekannt, also sprechen wir über Depression im Allgemeinen, und über das Gemeine daran. 
Es ist Frühling 2012. Der letzte Frühling mit Oma.

„Er wäre so stolz auf dich!“ Ich gebe meine Bachelorarbeit ab und fahre von Göttingen nach Oldenburg. Oma ist seit ein paar Tagen im Hospiz. Sie will nicht, dass ich ihr vorlese, ich soll ihr lieber etwas erzählen, also erzähle ich von meinen Plänen. Auf ihr Kompliment in deinem Namen antworte ich, dass du schon damals stolz warst. Ich erinnere mich.
”Tschüß, mein Schatz!“, sagt Oma zum Abschied. Es klingt, als würden wir uns wiedersehen. Ich empfange ihren vorerst letzten Blick und sehe sie zwischen Decken lächeln.

Ein paar Tage später sehe ich sie wieder. Sie ist es, aber sie ist es irgendwie auch nicht. Es ist ihr Körper, der fast 91 Jahre ihr Zuhause war. Wir haben uns für ihre Aussegnung um ihr Bett versammelt und verabschieden uns leise. Und wie ich Oma so in aller Ruhe ein letztes Mal Beistand leiste, bewegt mich genau das: euer beider Ende – und der starke Kontrast.

Dein Ende war schnell, plötzlich und laut. Ich höre nichts außer der ohrenbetäubenden Stille. Und als ich endlich anfange, wieder etwas zu hören, höre ich ihn sagen: „Was soll das Gegrabe nach 18 Jahren?“ Was für ein komisches Verständnis von Zeit. 1994 war ich für den schweren Spaten noch zu klein, und ich habe so einiges nachzuholen. Die Weichen für meine Karriere als Archäologin sind jedenfalls gestellt. Ich bin in richtiger Aufbruchstimmung und will wissen: Wie tief kann man eigentlich sinken? Und welches Wissen über Verlorengegangenes versteckt sich in den angehäuften Schichten? Wenn ich unten angekommen bin, werde ich Wurzeln schlagen und in die Höhe erstarken. Flachwurzler halten Stürmen nur schwer stand.

Diese Gedanken sind aber nicht für seine Psychiaterohren gedacht. Ich siebe aus unserem Gespräch das heraus, was ich gebrauchen kann. Den Rest schaufle ich zur Seite. Ich arbeite mich in die Tiefe und häufe mein Wissen über meine Familie an. Der Verfallsprozess ist schon in vollem Gang. Ich kann ihn unterbrechen – oder zumindest verlangsamen.

So wie Trauma Dramaturgie durchbricht, breche ich jetzt in mein Trauma ein, lege alle Fundumstände und darin eingebettete Fundstücke frei. Der Weg raus ist der Weg rein. Also fange ich an zu graben. Die Ergebnisse meiner Forschungen fasse ich dann im Laufe der Jahre in eine geeignete Sprache. Der Titel für das Buch steht bereits. Er lautet: Stapfenstreich.

Bisher ebnen mir rein deskriptive Sätze über deine letzten Schritte den Weg. Ich bewege mich auf ihnen wie auf starren Schienen. Sie führen mich an dein Ende, dann brechen sie ab und lassen mich zwischen Feldern und Himmel allein zurück. Ich laufe sie immer wieder ab, aber sie lassen mich nicht zwischen die Zeilen. Ich werde zu einer Außenstehenden. Das kann ich alles so nicht stehen lassen. Ich kann mich nicht so stehen lassen.

Es reicht ja, wenn sie es tun. Wenn sie „Oh, Fettnäpfchen!“ sagen, nachdem sie auf Nachfrage die Art deines Todes erfahren.
Ich weiß, sie tun ihr Bestes. Sie sind auch nur Menschen. Doch mit ihrem Schweigen drücken sie dich nieder. Du stirbst mehr als einmal. Ich erlebe es immer wieder.

Davon habe ich genug! Ich werde alles wieder-holen. Ich schreibe jede einzelne Erinnerung mit dir auf. Die Erinnerungen füllen zwei Seiten. Zwei Seiten in nicht einmal fünf gemeinsamen Jahren. Ich unternehme weitere Erzählversuche; über vereinzelte Sinnabschnitte geht es noch nicht hinaus. Wenn ich Zusammenhänge herstellen will, brauche ich mehr Wissen, sonst kann ich die Bruchstücke nicht miteinander verbinden. Ich komme auf die Idee mit dem Graben und ignoriere die Warnung des Leiters der psychiatrischen Abteilung.

Ein bisschen verstehe ich schon, was er meint, denn es gibt einen Grundgedanken, der uns eint: Der Abteilungsleiter und ich, wir wollen beide nicht, dass ich im Strudel der Geschichte untergehe. Wenn ich nicht grabe, wird aber genau das geschehen. Denn wir sind zu kurzsichtig und sehen nach dem Ende nur noch das Ende. Es fällt wie ein Dominostein und bringt alles, was davor war, zu Fall. Die Essenz aus dem Davor, aus der Zeit vor der Zäsur, liegt unter deinem Ende begraben.

Dein Ende ist nicht das, was zählt, aber das, worum sich noch immer alles dreht. Es ist zwar längst passiert, es ist vorbei, es liegt in der Vergangenheit. Nur: Mein Kopf ist nicht länger auf der Höhe der Zeit. Dein Verlust fährt nachträglich mit voller Wucht in mich hinein. Ich hinke hinterher und komme zu spät in die Zeit nach Omas Tod. Meine Tante, deine Schwester, zeigt mir Omas Taschenkalender. Ich nehme sofort den von 1994. Oma schreibt an deinem Todestag: Warum? Warum?, und: Warum habe ich ihn nicht festgehalten, als er bei mir war?

Schuldgefühle verzerren die Wahrnehmung von Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden eins und es beginnt das Gekreise in der Gleichzeitigkeit. Um darin nicht zu versinken, ändere ich Omas Frage von Warum? zu: Was hinterlässt das in mir?
Mit nach außen oder nach hinten gerichteten Fragen kommt man nämlich nicht weit. Ich muss hören, was mein Körper sagt, bevor er es schreit. Dafür entwickle ich sein Stimmengewirr:
Ich höre, wie du mit mir sprichst.
Ich höre, wie deine Depression mit dir spricht.
Ich höre, wie mein Trauma mit mir spricht:

„Du kannst ruhig wütend sein. So richtig wütend! Sag: ‚DU ARSCHLOCH!‘ Das kannst du ruhig zu ihm sagen.“
Es ist 2001, ich bin 12 und wir sitzen an meinem Küchentisch in meinem Zuhause. Ihr wart mal Freunde, aber das weiß ich da noch nicht. Ich denke nur, warum sitzt er hier? Wer hat ihn reingelassen? Warum sagt er mir, wie ich fühlen soll? Ich bin wütend, aber auf die Welt, weil sie mir nichts gibt, das ich greifen kann. Ich bin locked-in, eine Zuschauerin. Ich komme weder in die Welt, noch komme ich an mich heran. Ich habe noch keine Sprache, und er hilft mir nicht, sie zu finden. Er erstickt sie im Keim, indem er sagt, ich mache das alles falsch. Er ist der Erwachsene, aber er hat noch viel zu lernen. Er darf ja gerne wütend auf dich sein, wenn es ihm hilft, aber das ist nicht mein Weg. Ich wünsche ihm, dass er nicht für immer bei seiner Wut stehen und mir, dass er nicht für immer an meinem Tisch sitzen bleibt.

„Ihr wisst so vieles nicht!“
2006 schreibe ich Oma einen Brief. Auslöser ist etwas, das sie sagt, als wir Kniffel spielen. Ich höre es und bin dabei ganz still. Sie hat Recht: Ich weiß vieles nicht. Das ist das Gemeinste: Dass die Erwachsenen mehr wissen. Das wenige Wissen macht mich so unbeweglich. Ich fühle mich ausgeschlossen, zurückgelassen, hinterblieben. Ich muss der Einsamkeit Einhalt gebieten und suche mit Oma das Gespräch.
Sie öffnet meinen Brief. Sie öffnet mir die Tür. Wir setzen uns an den Tisch ins Wohnzimmer.
Was mir besonders in Erinnerung bleibt: Ich frage nach meinem Opa, der nie aktiv mein Opa war, weil er schon in den 60er Jahren starb. Ich frage, wie euer Verhältnis war, von dir und deinem Vater.
„Gut!“, sagt Oma.
Die Schuld liegt auf der Lauer. Danach frage ich hier doch aber gar nicht. Ich bin es doch, Oma! Ich erfrage nur Zusammenhänge, damit ich nicht mehr in der Schwebe lebe. Zusammenhänge, denen ich später Halt gebe. Doch Antworten bleiben vorerst aus.

Jahre später offenbart unverhofft der Strom der Zeit einen sachdienlichen Hinweis: In Göttingen flattert mir ein Brief entgegen. Blaues Löschpapier, zweiseitig beschrieben. Er „fällt“ aus einem meiner Bücher. Wie er da hingekommen ist, ist mir völlig unklar. Bist du etwa hinter dem Regal, wie bei Interstellar? Ich erkenne die Schrift und Spuren von Tränen, von vor zwei Jahrzehnten. Ich weiß nur nicht, von wem.

21.12.1993

Es war schön, daß du am Sonntag bei mir warst und wir miteinander sprechen konnten.
Ich habe gemerkt, daß die Therapie etwas in dir bewegt hat.

Du bist in einer Klinik. Von dort besuchst du Oma für ein Gespräch. Sie öffnet dir die Tür. Ihr setzt euch an den Tisch ins Wohnzimmer. Ich erinnere mich: sie erzählt es mir, als ich mit ihr dort sitze. Sie erzählt, du hast in der Vergangenheit gegraben und so gut wie gar nicht mehr geschlafen. Hast die Befunde nicht ertragen. Stellst ihr dazu viele Fragen. Ihre Antworten kommen zu spät. Sie versinken in den angelegten Tiefschnitten. Du umarmst sie ein letztes Mal, bevor du gehst. Direkt danach schreibt Oma dir den Brief:

Du musst so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus heraus.
Die Ängste, allein zu sein, habe ich über 25 Jahre gehabt.
Darum habe ich mich wohl mit vielen Dingen beschäftigt und im Garten gewühlt,
bis ich müde war.

Omas Brief bleibt nicht der einzige Zufallsfund: Ein Brief von dir hat überlebt. Er kommt Jahrzehnte später, und doch nicht zu spät. Du schreibst über deine finanziellen Sorgen: Die Krankenkasse übernimmt das Geld für die Therapie nicht; du weißt nicht, ob du überhaupt zurück in den Schuldienst kannst. In den letzten Zeilen gewinnt deine Depression endgültig die Oberhand:

4.1.1994

Ich habe mich zu sehr an meine Kinder geklammert.
Ich war zu sehr in ihnen zu Hause, wo ich doch in mir Zuhause sein sollte.
Ich wünsche den Kindern, dass sie freie, starke und liebende Menschen werden.
Ich bin es leider nie geworden.


Ein paar Tage später notiert Oma in ihrem Taschenkalender:
Warum habe ich ihn nicht festgehalten, als er bei mir war?

Als ich mit Oma an ihrem Tisch über dich spreche, sage ich, dass mein Körper wusste, dass uns etwas Bahnbrechendes bevorsteht. Dass ich wusste, dass du nicht wiederkommen willst. Und dass ich dich festhalte, als du gehst. Und wie ich weine und dein Bein umklammert halte. Doch es hilft nichts: Du ziehst mich noch ein paar Schritte mit, bis ich es verstehe und von dir ablasse.

„Ich wusste es!“ Das ist das, was ich ausrufe, als Mama es uns ein paar Tage später erzählt. Es ist mein Vorwurf an die Welt, aber auch an mich selbst. Ich versteinere im Kreise meiner Angehörigen und werde von Nebel umhüllt. „Adlerauge“, so hast du mich immer genannt. Das kann ich jetzt nicht mehr für dich sein. Ich werde zum Blindgänger.

Später stellt sich heraus, dass es gar kein Nebel ist, der wie ein Schleier vor meinen Augen hängt: Ich bin einfach nur kurzsichtig geworden.

Oma lässt derweil ihre innere Unruhe am Garten aus. Gemüsebeete in Aufruhr. Sie wühlt und duldet dabei keinerlei Konkurrenz. Die Maulwürfe bekämpft sie vehement. Sie hätte von ihnen lernen können: Sie graben sich durch sämtliche Schichten, bis ein Zuhause entsteht. 

Manches Wissen geht mit den abgetragenen Schichten unwiederbringlich verloren. Es gerät aus dem Blick. Es wird von angehäuften Massen unterdrückt. Es wiegt zu viel. Jeden November laufen Oma und ich den Schweigemarsch ab Pferdemarkt.
„Ihr wisst so Vieles nicht!“
So wie ihr, Oma? So wie ihr es damals nicht gewusst habt?
Manchmal erzählt sie von früher, und wenn, dann immer gleich. Sie sitzt neben mir, den Blick in der Vergangenheit, dann schlägt sie auf den Tisch, schaut mir in die Augen und ruft: „Wir haben es doch nicht gewusst!“
Und was ist mit der Vase aus dem Deportationszug?
Die meiner Urgroßmutter gereicht wurde gegen ein Laib Brot?
An der Bahnlinie in Kayhausen?
Das kann ich Oma nicht mehr fragen. Ich erfahre Vieles erst nach ihrem Tod von meiner Tante. Seit Oma nicht mehr lebt, graben wir so gezielt wie noch nie. Wir füllen die Lücken, und dort, wo es nicht mehr geht, bleibt Deutung und Dichtung, und die Welt liegt etwas weniger in Stücken.

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10 Werke | Silke Teschke