Kein Käfer

Die Käfer sind uns ausgegangen. Was gerade noch gruselig war, ist einer gänzlich anderen Vereinnahmung gewichen. Nur auf den ersten Blick ist die weniger körperlich. Da sind Maschinen und da ist eine Verselbständigung. Da sind künstliche Leiber und ist ein Hinauswachsen über alles, was menschlich war. So verwandeln wir uns heute, und keiner mehr da, der es schockierend lapidar zu beschreiben wüsste, keiner, der das Abseitige hernimmt als Beweis dafür, zu leben.

Nach all dem Auseinandernehmen, das der posthumen Enteignung der Texte gefolgt ist, nach all dem Besserwissen und Schlechtermachen, hat es nicht einen Beamten gegeben, der nicht ein wenig Kafka bedeutet hätte. Und nicht einen Käfer, der nicht ein wenig Verwandlung verheißen hätte. Im Nachhinein vermessen wir unsere Grenzerfahrungen entlang dieser schlängelnden Sätze und wissen sie als Kunst, wissen unsere Betroffenheit in der Begegnung mit dem unentwegt fremden Selbst. Und wissen um die entkörperte Vorstellung als posthuman: hellsichtige Leitlinien fürs Überleben im neuen Jahrtausend.

Nun ein Gerangel um die Plätze auf der Galerie, da dem großen Mann überall die Bühne gehört, auch da, wo es kaum beabsichtigt ist, dient doch das Abseitige als Beweis dafür, zu leben.

Die Verkürzung auf den Käfer lediglich ein Leitsymptom. Das häusliche Tier lässt sich gut darstellen, selbst da, wo es fehlt. An den Rändern ist es besonders augenfällig, wie sehr uns die Schlichtheit des Käfers - egal, ob er vielleicht eine Schabe war - Modell steht. Wie sehr die Idee des tierischen Seins eine Lücke in unsere Vorstellungskraft gerissen hat. Wie sehr es am Käfer mangelt, sobald ein Geist oder Körper über sich hinaus will. Als Erzählung kennen wir ihn - Platzhalter unserer Belesenheit.

Unsere Gegenwart ist eine andere. Wirklichkeitskonstruktionen in Full-HD haben Humanoides auf den Plan gerufen, um mit Ähnlichkeit zu täuschen. Kein starres Chitin mehr, aber auch kein Geschlecht. Angeblich nur unbestimmtes Wabern in binären Strukturen, die lernfähig geheißen. Die so viel mehr sein sollen als sie und sie selbst je sind. Und doch nie mehr sind, als wir uns daraus machen, oder das Abseitige als Beweis dafür, zu leben.

Also keine Käfer mehr. Hilfe erwarten wir nunmehr anorganisch, halten die Entgrenzung der Körperhüllen somit für garantiert. Bleibt zu hoffen, dass wir uns nicht erst mit scharfer Klinge durch die obersten Hautschichten schneiden müssen, um nachzusehen, wie lebendig wir in welcher der angesagten Realitäten noch sind.

Ich glaube die intelligenten Maschinen haben ausgerechnet, dass wir spätestens ab übermorgen die Investitionen in alles unterlassen müssten, was der Insektenwelt schadet. Bloß ist das so viel. Und es ist nicht neu, dass uns das Unterlassen schwerer fällt als das Tun. Ihr Sterben ist unscheinbarer als das anderer Arten - selbst unter den Insekten – denn noch ist jedes vierte Tier ein Käfer, immerhin.

Wie also nicht an den Käfer denken? Fast erstaunt es mich, dass unsere Ausgestaltung der Maschinen sich nicht an der Ausgewogenheit von drei Beinpaaren orientiert, an der Effizienz von Röhrenherzen, der Ergriffenheit von Fühlern, der Robustheit eines Halsschilds, oder dem metaphysischen Schillern der Körperhülle, wo sie der Welt an ihren Außengrenzen angehört. Aber nein, wir schaffen uns selbstverliebt anthropomorphe Kinder, die sich hernach als unsere Eltern gebärden, und das Abseitige als Beweis dafür, zu leben.

Alles gerät uns durcheinander, nicht zuletzt die Generationengrenzen. Der Reichtum an Metaphern bringt angesichts der humanoid glatten Oberflächen keine Dividende mehr. Unsere Ideen lassen wir von Sprachgeneratoren pedantisch in eine Richtung glattstreichen - und die wortreichen Schlangen, mit denen wir zuvor Sätze gespielt haben, sowieso. Bald sind wir dort, wo wir uns selbst nicht mehr erkennen, wären körperlos nichts als Spiegelungen in Maschinenhüllen.

Da lobe ich mir das schiere Käferdasein, unter dem sich alle etwas vorstellen können. Das Fremdsein im eigenen Körper abseitig bebildert wie nichts sonst. Alle kennen das Beispiel, manche entwerfen sich in virtuellen Welten Zukunftsvisionen von sich als Möglichkeit. Ein Käfer kommt dabei noch dann und wann als Zitat vor. Die Optimierung des Selbst geht gern anthropozentrische Wege. Lass uns Kriegerin sein, oder beileibe die jüngste Version von uns selbst! - wie immer das Abseitige als Beweis dafür, zu leben.

Doch das erklärt uns nicht den Weg zum Schloss, das wir doch immer noch suchen. Die Hinwege so unergründlich wie die Rückkunft ungewiss. Einmal wird es, die Anhöhe vor Augen, sogar hautnah. Aber alles hilft nichts, keine libidinöse Ablenkung hält uns davon ab, weiter nach oben zu wollen. Und die Stille ist nie absolut. Wir streben dort hinan wie flugunfähige Insekten zu einem Licht, das uns nicht sieht. Dann schon lieber Käfer sein und das Abseitige als Beweis dafür, zu leben.

Und etwas ändert sich zugleich. Mag Angst sein, oder Gewissensbisse ursächlich, den nächsten Generationen gegenüber. Die Sorge ums Fortbestehen lässt uns die Mitgeschöpfe genauer besehen. Käfer nicht ausgenommen. Wesentliche Antworten glauben wir in einem würdigen Umgang mit den lebenden Wesen zu erkennen. Wie immer sind uns manche näher als andere. Es wird schon gesprochen von den besten Rezepten aus Insektenfleisch. Die Käfer nämlich hätten, so heißt es, nichts dagegen, in dunkler Bedrängnis gehalten zu werden - ganz anders als Schweine, die derlei gar nicht goutieren, und sich überhaupt nichts machen aus dem Abseitigen als Beweis dafür, zu leben.

Ich persönlich scheue mich noch vor dem Verzehr von Flügeldecken, die bei der Familie der Käfer zumeist hart sind. Vermeintlich auch der darunterliegenden andächtigen Faltung der Hautflügeln wegen: Durchscheinende Flügel, dicht am Hinterleib, der den meisten Körperraum einnimmt und recht schmackhaft sein soll. Fast höre ich das Knacken des Panzers unter meinem Kauen. Das Schlucken ist dann schon nicht mehr so gewagt, dient kaum noch als Beweis für das Abseitige - noch dafür, zu leben.

Und während ich mich frage, ob ich das irisierende Blau herausschmecken würde, ob ich denn trauern würde, wie damals als Kind, um den Tod des Käfers, erschrecke ich, denn beinahe hätte ich es getan: mir Kafkas Traum einverleibt.

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