Die Tauben
Tauben zentral (eine notwendige Annäherung)
zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift der Schule für Dichtung Wien, sfd #4, 2022
nähert man sich dem Zentrum
nähert man sich den Tauben
deren Arche längst die Stadt geworden
vielleicht sind sie gar gläubig
finden sich die größten Mengen
doch vor Kirchen Domen Kathedralen
oder sind es wir die glauben
und die Tauben führen uns
flattern instabile Schwärme
teilen sich wie Meere
vor den Füßen
flügelwildes Federspiel schlägt Wellen
bis hinauf an Rinnen
warten oben aufgefädelt
Ziegel ätzend
auf die Herrschaft
und die Nacht
die mutig schwarz nach ihnen greift
dann sind sie fort für den Moment
sind lautlos über uns versickert
in den Klüften und den Spalten
bis zum nächsten Lichtbeginn
wenn sie sich frisch gemehrt
von oben ins Quartier ergießen
überfluten uns mit schierer Masse
bis wir Hälse über Tauben recken
um noch etwas Stadt zu sehen
Silke Scheffel, April 2022
Tauben waldwärts (eine nutzlose Auseinandersetzung)
wie ich mich von den Ballungen entferne
entferne ich mich von den Stadttauben
die wir sorgenfältig gelernt haben zu beklagen
da sie einer maroden Kultur folgen
da sie uns Siechtum verheißen
doch nicht ihre Tränen sinds
die unsere Denkmäler erodieren
und nicht ihr Angstschweiß
unter dem Fassaden bröckeln
keine Spitze hält sie ab
und nichts glauben sie
gegen sich gerichtet
ihr Ruf ein stetes Gurren
das meine Kindheit einlullt
einst war mir das Tier dazu unerkannt
ich nahm das persönlich und wusste nicht
wie sehr sie uns allen folgen
selbst bis an Waldränder
wo sie nichts als sich verloren haben
wo wir auf den Fuchs hoffen sie zu vertreiben
wo wir auf den Eichelhäher hoffen sie anzuzeigen
wo wir auf Raubvögel hoffen sie zu dezimieren
ich aber denke immer auch ans Turteln
und an dieses eine Taubenjunge
das wir mit Saft aus unseren Mägen gefüttert
damit es verwildere an unserer Stelle
weil es das so viel besser kann
Sofie Morin, 2022
Versuch einer Beantwortung von
„Tauben zentral (eine notwendige Annäherung)“ von Silke Scheffel