Väter waren
Väter waren früher viel dünner als heute. Manche sahen aus wie Halbstarke, und zur Lederjacke passte ein alkoholisches Getränk. Alle Väter tranken viel, man trank ständig und ohne Pause, auf der Straße, in Talkshows, zuhause, man rauchte auch, man rauchte und trank, wie es einem passte, und Kinder wurden losgeschickt, um Zigaretten zu holen. Selbst Akademiker rauchten HB-Zigaretten, und manche tranken Fusel-Wein, und praktisch kaum jemand war so wählerisch wie heute, und die Männer hatten kein Wein-Abo. Das heißt, als ich ein Kind war, hatten die Erwachsenen, allen voran die Männer und Väter, ständig einen sitzen, waren unaufmerksam, benebelt. Natürlich fiel uns das nicht auf, wir hatten ja keinen Vergleich, und auch ich ging Zigaretten holen, und einmal erlebte ich dabei etwas Glückliches: Der Automat war offenbar kurz zuvor geknackt worden, wie ich es mir heute erkläre, damals aber erschien es mir einfach als ein Wunder, dass alle Türen mit Zigaretten offen waren und dass, als mein Geld durchfiel und ich auf diesen Knopf drückte, noch mehr und mehr Geld herauskam aus dem Automaten, ich ließ die Münzen in meine Hände prasseln und stopfte alles, Zigaretten und Geld, in meine kleine Tasche und kam heim mit vollen Händen.
Man freute sich also über Kinder, wenn sie einem Zigaretten brachten, aber vielleicht waren Männer von Kindern weniger begeistert, vielleicht waren die Männer in jener Zeit sogar ständig zerquält von ihrer bürgerlichen Existenz, genervt von ihren Frauen und latent unhöflich. Sie müssen aus dem Haus, es treibt sie weg von dort. Alles, was mit ihrer Frau und ihren Kindern zu tun hat, ist belastend und eng. Sie laufen oft durch die Stadt. Ob Männer damals öfter gelaufen sind und nicht etwa Auto gefahren, lässt sich schwer beurteilen, denn gleichzeitig fuhren diejenigen, die ein Auto hatten, oft damit. Selbst in der Kleinstadt konnte man, ohne scheel angeschaut zu werden, mit seinem Auto etwa zum nächsten Zigarettenautomaten fahren, jeder hatte dafür Verständnis.
Fahrräder gab es, aber sie waren nicht hip. Es gab keine Helme. Mit dem Fahrrad konnte man dann durch den Wald fahren, statt zu laufen. Jeder war sonntags im Wald. Es war obligatorisch, doch der Wald war eher so ein Schlechtelauneraum, es gab keine Landlust-Zeitschriften, die den Wald priesen, und niemand fotografierte leuchtende Waldbeerenbüsche für einen Instagram-Account, es gab nur Ameisenhaufen und Pilze. Und die Väter waren, denke ich, oft schlecht gelaunt und liefen voraus, und vielleicht dachten sie über ihre schrecklichen bürgerlichen Existenz en nach, und die Mütter mit kleinen Kindern hechelten ebenso schlecht gelaunt hinterher. Und es musste dann eingekehrt werden auf ein Bier, das noch ein echtes gelbes Standard-Ding war und kein spezielles Craft Bier mit provenzalischem Malz, in das Wespen hineinfielen, und das sicher nicht besonders schmeckte, eher günstig war, und dann wankte man eben heim oder fuhr mit dem Auto, denn das Sicherheitsbewusstsein war noch nicht so ausgeprägt.
Sonntags gingen Männer also in den Wald, zumindest die verheirateten. Vielleicht gingen manche zu einer Geliebten. Damals fand alles früher statt, manche hatte schon in den Zwanzigern eine Familie, deswegen musste auch die Geliebte sein, weil man noch offen war und jung und irgendwie unbekümmert und grausam, und die Männer waren auch viel kindischer als heute, viele ließen sich noch lange die Kleider von ihren Müttern herauslegen, und viele Väter riefen noch als Väter täglich ihre Mütter an, die oft dicke, gestandene Frauen waren, mit denen nicht gut Kirschen essen war, die gut kochten und einen Besuch für sonntags nach dem Waldspaziergang erwarteten.
Zuhause herrschte eine gewisse Muffigkeit, die vielleicht von den überhitzten Räumen kam. Zimmer waren im Winter heiß, Lüften war ein Fremdwort, in der Luft festhängender Zigarettenrauch keine Schande, sondern vielleicht sogar Ausweis langer, interessanter intellektueller Diskussionen, in denen man das bürgerliche Leben und die frigiden Frauen verdammte, und dabei saß man in Zimmern, in denen es noch Schallplatten gab und manchmal Heizöfen und Zeitschriften, immer bullenheiß, und vielleicht mussten deswegen die Männer öfter mal raus, während es den Frauen nicht so viel auszumachen schien, oder sie ließen es sich nicht anmerken.
Aber dann, im Herbst! Gingen die Väter mit uns Drachenfliegen. Sie standen herum in Parkas und unterhielten sich mit anderen Männern, die zufällig mitgekommen waren, vielleicht waren einige Kommunisten darunter, und man unterhielt sich über Bildungspolitik und Helmut Schmidt und Terrorismus und die Weltlage, und dann rannte man los, wenn die Kinder losrannten, und Väter waren dann ganz bei den Kindern, die oft einen praktischen Topfschnitt auf dem Kopf hatten und daher, Mädchen oder Junge, eher ununterscheidbar waren, und man trug nicht rosa und blau, sondern braun, grün und orange. Die letzte Herbstsonne leuchtete, und die Kinder bekamen, wenn sie verschwitzt und glücklich waren, am nächsten Kiosk Cola oder Apfelsaft und dazu eine Nussschnecke, denn Zucker schien damals noch nicht problematisch. Im Winter fuhren die Väter Schlitten, und mein Vater fuhr einmal mit mir den Hügel herunter, bei meiner Großmutter im Schwäbischen, und wir gewannen so viel Schwung, dass wir kenterten, wir kippten in voller Fahrt in den Schnee, und mein Vater lachte, er lachte sehr tief und aus vollem Herzen, er lachte auch, wenn wir auf meiner Bettbühne kleine Vorführungen machen, er war aus Böhmen, er durfte das, aber er weinte auch, als der Igel starb und später, als wir wegzogen, und an diesem Tag blieben wir einfach liegen und machten mit unseren Armen Figuren in den Schnee, die von oben noch eine Weile, dann nicht mehr zu sehen waren.
Meine Mutter schenkte meinem Vater kurz bevor sie sich von ihm trennte, eine graue Lederjacke. Mein Vater hatte früher Anzüge getragen, zum Unterrichten sogar eine Krawatte, er war so aufgewachsen, mit eleganten Schuhen, nun war er dünn geworden und wirkte in der Lederjacke schmal. Sie war ganz gerade und hatte einen Reißverschluss. Mein Vater hatte einen Anzug getragen und viel Fleisch gegessen, das waren so Sachen, die aus der Mode gerieten damals, mein Vater war nie Kommunist, er war Katholik und stammte vom Dorf, Vater liebte Fleisch und briet für uns Bratwürste und Schnitzel, er ertrug es nicht, wenn meine Mutter den Herd auf die höchste Stufe drehte:
„Nicht wieder auf 3!“
„Bitte dreh runter“
„Das Fleisch wird ganz zäh!“
Meine Mutter drehte herunter. Und wieder rauf, höchste Stufe. Es musste schnell gehen! Sie war Feministin, sie arbeitete, sie hatte wenig Zeit. Wir liebten das zähe Fleisch, das meine Mutter zubereite, für das zarte meines Vaters hatten wir keinen Sinn, und später, als wir mit ihr allein lebten, aßen wir vegetarisch. Mein Vater lernte damals, kurz bevor wir auszogen, Fahrrad fahren. Er war jahrelang in seinem großen roten Ford herumgekurvt, jetzt legte er sich ein Rad zu. Darauf fuhr er ungelenk, er wolle immer, sagte er, blinken, wie beim Auto. Einmal nahmen wir zu zweit die Räder, durch den Wald, heim von der Oma, wo wir beim Sonntagskaffee gewesen waren, da fiel er hin, mein Vater, auf den schlammigen Waldboden, seine Lederjacke wurde ganz dreckig. Später trug ich sie zu den groben Karohemden, die um die Zeit schon einmal in waren, damals, als Kurt Cobain sich erschoss. Ich malte, weil ich es cool fand, mit einem Stift riesige Blumen darauf.
Als ich Kind war, waren viele Männer dünn, aber es gab noch einige dicke. Wie heute wieder trugen viele Männer Lederjacken und Parkas, und sie hatten Bärte. Die Kommunisten unter ihnen trugen ihre Arbeiterschnauzer mit Stolz, und die anderen Vollbärte. Man ging also mit den Kindern Drachen steigen, die Topffrisuren hatten und zottelige Haare über die Augen, die immer husteten, die auch Parkas trugen und tendenziell viel draußen herumstromerten und ab und zu Zigaretten mitbrachten. Väter waren verzweifelt und froh, euphorisch und komisch, sie gingen zur Arbeit, vielleicht in einem Büro oder in eine Schule, oder sie waren Bäcker und Postboten, Fotografen und Schriftsteller, Metzger und Schuster, Richter und Rechtsanwälte, nur wenige waren arbeitslos, keiner saß vor einem Computer, allenfalls vor einer Schreibmaschine, trugen zum Spaß lange weiße Gewänder von den Reisen nach Fern, sie hießen Hans, Peter und Klaus, hießen Michael und Herbert, Wolfgang und Rolf, Ralf und Thomas. Männer lasen teilweise auch Bücher über männliche Sexualität, gingen zum Therapeuten und machten sich so ihre Gedanken.
Sie seufzten, sie spürten ihre Rippen unter dem dicken Parka und das Zotteln des Barts nervte etwas. Hinterher tranken sie ein sehr gelbes Bier und sahen in den blauen Himmel, in dem die Zukunft steckte, ihre und unsere.