Was ist Lyrik? oder The Hatred of Poetry Slams

Statt zu fragen, was Lyrik ist, will ich eigentlich lieber fragen, was Lyrik kann. Soweit ich sehe, tritt das gängige Verständnis von Lyrik bzw. der Umgang mit ihr in zwei Hauptarten auf: Erstens kursiert sie, ganz klassisch, für die einen lediglich als schöne Sprache in Reimform. Ein Gedicht vermag, uns gehoben zu unterhalten, ob auf angenehme oder melancholische Art. Nüchtern betrachtet kann Lyrik also konsumiert werden wie andere Unterhaltungsmedien auch, wobei der Bildungsbürger sich hier einreden kann, er unterhalte sich auf höherem Niveau als der Pöbel; nicht umsonst hat man zusätzlich zum Goethe-Band ein Abo im Nationaltheater. Kunst dient schon lange und unverhohlen als Abgrenzungsmerkmal zu unteren sozialen Klassen. Als Selbstinszenierung der Oberschicht (oder solcher, die dazu gehören wollen) wird Kunst systemstabilisierend verwendet. Es fragt sich: Kann Kunst mehr oder kann sie jetzt endgültig weg?

Schauen wir uns zunächst die zweite Verwendung von Lyrik an, die sich zumindest mal über den reinen Genuss hinauswagt: das Gedicht hat eine Eigentlichkeit, die seine Aussage ist. Das lernen wir in der Schule und teilweise sogar an den Universitäten, hier aber in imposanten Jargon verpackt. Die Aussage kann gern politisch sein im Sinne einer Kritik oder Aufforderung, oder schlimmstenfalls ist sie biographischer Natur. Der Leser oder die Interpretin begeben sich auf eine Suche kriminologischen Ausmaßes nach der verschütteten Bedeutung und ihren Ursprüngen. Wenn ein Gedicht sich auf eine eindeutige Aussage oder gar Befindlichkeit im Leben der Autor:in verkürzen lässt, stellt sich die Frage, wieso sie überhaupt ein Gedicht hat schreiben müssen. Dann geht es ja wohl auch verständlicher. Die pure Lust am Räuber- und Gendarm-Spiel muss hier sowohl Autor:in als auch Leser:in antreiben. Man kann zur Rettung der dichterischen Form nur die auto-therapeutische Verarbeitungsmethode anführen, die also die lyrische Verklausulierung nötig macht. Hier sind wir, soweit ich sehe, bei einer stark trendenden Form der Lyrik angelangt. Lyrik als selbstwirksame Heilung, als self care und, seien wir am Ende ehrlich, Selbstdarstellung. Es schmerzt mich fast, das unsolidarisch zuzugeben, aber ich will mich nicht anfreunden mit der neuen Welle an emanzipatorischer mental health-Literatur, sofern sie sich in Kalendersprüchen erschöpft, die man durch willkürliches Enter über mehrere Zeilen gestreckt hat und dann Verse nennt. Es will mir nicht einleuchten, wieso man dichten sollte, wenn man eine Message der Klarheit eines „Depressionen sind scheiße“ rüberbringen will. Ich bin übrigens die allererste, die Depressionen scheiße findet, aber aus diesem Grunde sage ich das ja hier in aller unlyrischen Eindeutigkeit.

Nichts ist jemals unabhängig von kulturellen Kontexten. Nichts entspringt offenkundiger der gesellschaftspolitischen Situation als der Wunsch nach der Freiheit von Politischem. Auch in den gängigen Auffassungen von Lyrik spiegeln sich verschiedene Motive und Bewegungen, die unsere Gesellschaft mit ausmachen: Ware, Zweck und Individuum. In einem weiten Sinne neigt unsere Gesellschaft mit ihrer Massenproduktion dazu, sämtliche Handlungen und Regungen im Sinne ihrer Logik der Verwertung zu verzwecken. Der offensichtliche oberste Zweck des Profits bahnt sich in Schnörkeln Umwege durch Körper und Sprache. Herbert Marcuse bespricht schon in den 1960ern in Der eindimensionale Mensch, wie die kapitalistische Ideologie uns nicht etwa nachträglich durch Werbung einverleibt werden soll, sondern wie die ökonomische Ratio immer schon unseren Erkenntnis- und Handlungshorizont bestimmt. Indem die Waren

mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher –, und als guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. (Marcuse 2014, 32)

Das eigentlich antifaschistische Recht auf einen selbstbestimmten und individuellen Lebensstil hat seine politische Kraft beinah eingebüßt, indem Individualität in Form von Fashion- und Lifestyle-Produkten ausgedrückt wird. Der Tag, an dem REWE die Pride-Flag hisste, machte eins umso klarer: Trotz aller Homo- und Transphobie, trotz allem Rassismus und aller Misogynie, heißt unser Unterdrücker nicht Faschismus, sondern Kapitalismus. Und das gerade wegen seiner unsichtbaren und kaum spürbaren Wege, unsere Resistenz zu schlucken.

Wir lesen, um unterhalten zu werden oder verwertbare Information zu erhalten. Wir schreiben, um Informationen zu vermitteln, uns selbst zu heilen oder einfach zu publizieren, ergo Erfolg zu haben. Der Wunsch nach Anerkennung lässt sich nicht mit neoliberalem Karrierismus gleichsetzen, und genau so albern ist es, unterhaltsame Kunst als solche zu belächeln. Was man aber durchaus als beunruhigend wahrnehmen kann, ist die umgreifende Undenkbarkeit einer unverzweckbaren Tätigkeit – eines Produkts, das nicht zur Ware wird. Zieht man in Betracht, wie sehr man von allen möglichen Personen dazu aufgefordert wird, mal auf einem Poetry Slam zu lesen in der Hoffnung, dort entdeckt zu werden und stellt dies in Relation zum vermeintlichen Allgemeinwissen darüber, dass man mit Schreiben kein Geld verdienen kann, lässt sich feststellen: Es geht hier nicht einmal mehr um den Geld- oder Tauschwert der Ware, sondern die Ware als solche zeigt ihren idealisierten Charakter: Nur als Ware hat das Produkt Text einen Wert.

Nicht jede Lyrik kann, und nicht jede Lyrik muss sich dem widersetzen, um Lyrik zu sein. Ein wichtiger und leider sehr vernachlässigter Lyrikbegriff liegt aber gerade darin, dass das lyrische Sprechen einen Versuch darstellt, sich der normalen Sprache zu widersetzen, die im Sinne Marcuses verstanden werden kann als Sprache, die durch die ökonomische Ratio strukturiert ist. Normale Sprache ist immer Mittel zum Zweck des Austausches von Information und ‚Faktenʻ. Darüber hinaus kann sie unterhalten oder rühren, dient also immer dem Zweck der Hervorrufung verschiedener ‚Emotionenʻ. Hierbei nimmt sie, wo schon keine Warenform, so zumindest eine zweckdienliche Form an. Die Sprache der rationalen Ökonomie hat die Tendenz, sämtliches, was sich ihr zu entziehen versucht, in „operationelle Begriffe oder Probleme“ zu übersetzen (ebd., 76). So entstehen Sprachgebilde, die manch einer Kapitalismuskritikerin als guter Rat verkauft werden: „Wenn du die Welt besser machen willst, werd doch Ärztin.“

Das Kunstschaffen oder -konsumieren ist eine Tätigkeit, die als Selbstzweck zumindest gedacht werden kann. So ein Selbstzweck findet sich sonst vor allem in der Natur, diesbezüglich sollte Kant recht behalten. Auch für Aufklärungskritiker wie Marcuse oder Adorno ist das Genießen von Natur einer der Momente, der sich der Logik der rationalen Ökonomie entziehen. Inzwischen gehört es immerhin zur Standard-Kapitalismuskritik, dass sich der Mensch die Natur fast vollständig zu ökonomischen Zwecken nutz- und ausbeutbar gemacht hat. Sogar die populärwissenschaftliche Erzählung der Biologie und der Evolutionstheorie operieren in dieser Logik, indem sie Naturphänomene wie Handlungen von Tieren unter lauter Einzel- oder sogar Allgemeinzwecke bringt. Berühmt ist zum Beispiel der angeblich alle Individuen durchdringende Zweck der „Erhaltung der Art“ – als dächte ein Feldhamster im Akt an seine Erben.

Was Lyrik zur Lyrik macht, ist ihr Widerstand gegen zweckrationale Sprache. Im Sprechen widersetzt sie sich ihrer Reduktion auf die Vermittlung eindeutig nutzbarer Information. Ihre Kraft liegt gerade in ihrer Uneindeutigkeit und ihrer Performanz als uneindeutiges Sprechen. Diese etwa durch Biographistik aufzulösen, nimmt ihr jeden Sinn. Die biographistische Reduktion enthüllt lediglich den Wunsch danach, die Kunst ihrer Schärfe zu berauben, indem sie sie auf individualistische Bestrebungen herunterbricht. Wenn das Individuum und seine Eigenverantwortung die relevanteste Denkfigur einer Gesellschaft ist, dient dies der Verhinderung politischer Veränderung, d.h. dem Schutz der Herrschenden.

Lyrik hat die Möglichkeit, die Ordnung der Grammatik zu durchkreuzen, indem sie die Korrektur von „Fehlern“ verunmöglicht. Theoretisch kann jedes aktive Sprechen eine Neuverhandlung der Gesetze und Bedeutungen der Sprache sein, aber das lyrische Sprechen tut dies immerzu und bewusst. Es verhandelt die Sprach- und Denkgesetze durch den Akt des Geschrieben-, Gesprochen- oder Gelesenwerdens, kann also durch keine Interpretation oder Theorie ersetzt werden. Sie schafft ihren Gegenstand in absurd konkreter oder ängstigend abstrakter Weise immer wieder neu, und ohne das konkrete Gedicht existiert sein Gegenstand nicht. Sie zeigt nicht mit dem Finger auf etwas Sichtbares, das sie nicht schon neu konstruiert.

Lyrisches Sprechen oder künstlerisches Schaffen sind aber gerade kein Refugium für unpolitische Schöngeister wie unser Bildungsbürger im Natinonaltheater. Der Selbstzweck der Kunst soll nicht trivialisiert werden zu einer l’art pour l’art („Kunst um der Kunst willen“) wie etwa im Kreis um Stefan George geschehen, der sich durch seine patriarchale Erhabenheit über Alltägliches profilierte. Die Neuverhandlung und der Widerstand gegen den ökonomischen Sprech sind in hohem Maße politisch zu verstehen. Anders als konkrete real- oder gesellschaftspolitische Bestrebungen und Handlungen oder politischer Aktivismus, die immer etwas konkretes angreifen, unternehmen oder verändern wollen, kann die Lyrik die Totalität der kapitalistischen Weltordnung in Frage stellen, indem sie sich ihrer zweckrationalen Instrumente zu entziehen versucht. Die Kunst ist imstande, dieser kapitalistischen Realität als Totalität etwas entgegenzusetzen, weil sie deren epistemische Möglichkeiten, ihren Horizont infragestellen kann. Das globale ökonomische System erscheint uns natürlich nie in seiner Gesamtheit, weshalb seine Totalität im Prinzip eine stumm fühlbare ästhetische Idee ist. Gerade das, was die Kunst in mancher Augen dekadent oder sinnlos erscheinen lässt, nämlich ihre Ohnmacht politisch-konkreter Handlung gegenüber, birgt auf der epistemischen Ebene ihr Potenzial. Einer ästhetischen Idee der kapitalistischen Totalität kann nur durch eine andere ästhetische Erfahrung etwas entgegengesetzt werden. Politischer Aktivismus und Kunst sind nicht dasselbe und sollten einander nicht ersetzen wollen, sondern decken verschiedene Bereiche der politischen Handlung ab: die konkrete und die ästhetische. Die ästhetische Erfahrung ist unerlässlich für ein politisches Bewusstsein – gerade zu dieser Zeit, in der das sozioökonomische System mit dem Anschein der Alternativlosigkeit auftritt. Lyrik versucht, eine Alternative, wo schon nicht sichtbar, so zumindest spürbar zu machen.

Leseempfehlungen:

Lukas Schutzbach: There Is an Alternative. With Herbert Marcuse and Mark Fisher towards a Political Aesthetics of Neoliberalism

Lukas Schutzbach entwickelt die hier zum Schluss angedachte These über Literatur und Neoliberalismus als Totalität ausführlich. Laut Schutzbach ist die ästhetische Erfahrung durch Kunst notwendig, um eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus überhaupt denk- und umsetzbar erscheinen zu lassen. Die Vereinnahmung unseres Erkennntnishorizonts durch den Neoliberalismus wird hier in erster Linie dargestellt mit den Theorien Marcuses und Mark Fishers. Als Beispiel einer Literatur, die sich ästhetisch dagegen zu stellen vermag, wird der Roman 10:04 von Ben Lerner besprochen. Ich danke Lukas für die Anregungen und empfehle das Lesen seines Buchs dringend. Mit den meisten deutschen Uni-Accounts kostenlos als PDF downloadbar.

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft

Mark Fisher: Capitalist Realism. Is There No Alternative?

Ben Lerner: The Hatred of Poetry

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12 Gesichter | Kyra Wilms