Weihnachten im Bienenhaus

Das Bienenhaus steht auf einem Hang voller Apfelbäume. Du musst kommen, wenn sie blühen, dann summt es überall. Jetzt im Winter liegt alles still da. Der Schnee bedeckt die Äste mit runden Kuppen. Mama und ich gehen jeden Tag vor die Tür und schauen, ob Vater kommt. Ich glaube, er wird aus einem Automobil aussteigen und von der Landstraße winken.
Die Bienen wohnen in der Mitte unseres Zimmers. Der Imker hat ihre Körbe zusammengeschoben und mit Tüchern bedeckt. Die Völker schlafen. Nur die Königin dämmert und frisst vom Honig, den ihr die Hofdamen bringen. Ich darf nicht zu laut spielen, sonst wachen die Armeen auf. Zweitausend Soldatinnen träumen in unserer Stube.
Außer den Bienen wohnen noch die Rainers und ihr Kanarienvogel Karsten bei uns. Frau Rainer sagt, Karsten könne sprechen, aber er gibt im Gegenteil nur einen Ton von sich. Heute beim Frühstück behauptete Frau Rainer, Karsten habe „Piet“ gesagt, weil immer von Piet die Rede sei. Piet – so rufen sie meinen Vater.
„Nein, er hat nur Piep gesagt“, sagte Mutter.
„Sicher kommt er bald“, seufzte Frau Rainer und wollte Mama über den Kopf streichen.
„Natürlich kommt er“, erwiderte Mutter. „Und jetzt alle hinaus, ich mache sauber!“
Die Rainers zogen sich ihre Mäntel an. Herr Rainer nahm sein Rauchzeug und vorsichtshalber auch Karsten mit.
„Mich kriegst du hier nicht weg“, sagte eine Stimme vom Ofen. Das ist Großmutter Lies, die habe ich ganz vergessen vorzustellen. Außer den Bienen, Herrn und Frau Rainer, Karsten, Mama und mir wohnt auch Großmutter Lies bei uns im Bienenhaus. Aber sie nimmt keinen Platz weg, denn sie sitzt den ganzen Tag im Sessel.
„Endlich allein“, sagte Großmutter Lies, während wir anderen hinausgingen.

Eine Stunde später hat Mama den Boden gewienert und auf den Möbeln Staub gewischt. Sie hat eine Kerze zerschnitten und die Stummel jeweils auf eine Untertasse gestellt. Eine kommt ins Fenster. Für einen Tannenbaum ist kein Platz, dafür sehen wir, wie Mama draußen einen Apfelbaum mit Strohsternen schmückt.
„Sie schuftet den ganzen Tag“, sagt Lies im vorwurfsvollen Ton zu den Rainers, die sich an die Rainer-Seite des Tischs gesetzt haben.
Die Rainers erwidern nichts, sondern hören, wie Mama draußen singt.
„So schlecht scheint es ihr ja nicht zu gehen“, sagt Herr Rainer und zündet sich eine Pfeife an.
„Piep!“ sagt Karsten bekräftigend.
Von draußen hören wir die laute Stimme des Imkers.
„Kommen Sie auf einen Schwupps?“ fragt Mama draußen.
„Wir haben hier keinen Platz mehr“ sagt Großmutter Lies im Sessel.
Der Imker kommt mit Mama herein, und bekommt Likör. Er bleibt nicht auf einen Schwupps, sondern er legt den Mantel ab und setzt sich zu den Rainers.„Wir dürfen hier nicht rauchen“, sagt er, „der Bienen wegen.“
Herr Rainer klopft seine Pfeife aus.
„Besondere Umstände erfordern besondere Lösungen“, fährt der Imker fort. Er holt eine Kiste hervor und hält sie Herrn Rainer unter die Nase. „Zigarren aus Lorsch, deutsches Fabrikat. Dagegen kann keine Biene was haben.“ Herr Rainer nimmt sich ein Exemplar und dann paffen die beiden Rauchwolken unter die Decke.
„Und dein Papa?“, fragt mich der Imker. An Weihnachten wieder zu Hause?“
In diesem Moment hören wir draußen etwas klappern. Alle rennen zum Fenster.
Ein Mann kommt den Hang heraufgestapft. Er trägt einen Rucksack, an dem Töpfe baumeln. Um den Körper hat er Seile und Kabel gewickelt.
„Kommt jetzt der Hausierer auch noch an Heiligabend?“ 
„Es ist Jay“, schreit Mutter. Sie rennt hinaus und ich renne hinterher. Du musst wissen, Jay ist ihr älterer Bruder, mein Onkel. Eigentlich heißt er Josef. Ich wusste nicht, dass er wie eine Vogelscheuche aussieht.
Mama weint und umarmt ihn, dass seine Töpfe klappern.
Jay kommt in die Stube und lässt Mutter vier Meter bestes englisches Stromkabel von sich abwickeln, indem sie im Kreis um ihn herumgeht. „Man kann nie wissen, wofür man es braucht“, sagt Onkel Jay und zwinkert mir zu. „Greif mal in meine Taschen, Kurzer.“ Ich hole lauter kleine Glühbirnen hervor, die ich vorsichtig in eine Schüssel lege.
„Donnerwetter“ sagt der Imker und beginnt sofort damit, die Birnen zu testen, denn es sind auch ein paar tiptop Batterien in Jays Tasche.
„Das ist noch nicht alles“, sagt Jay und holt einen Kasten aus dem Rucksack. „Die Airspeed AS Oxford zum Zusammenbauen. Frohe Weihnachten allen Modellbauern des Bienenhauses.“
„Donnerwetter“, sagt nun auch Herr Rainer und packt schon mal den Kleber aus.
„Piep!“ ruft Karsten sehnsuchtsvoll und Frau Rainer tut ihm den Gefallen und rückt ihn ein Stück näher zum Tisch heran, auf dem die Männer bereits die Teile auslegen.
„Jetzt kriegst du erstmal eine Suppe, Jay“, sagt Mama. Sie hat ganz rote Wangen.
Herr Rainer schiebt die Flugzeugteile beiseite.
Jay löffelt und alle schauen zu.
„Schmeckt es?“, fragt Mutter.
„Oh ja, sagt Jay, „lange vermisst, deine Suppe, Mary-Lou.“
„Schmeckt‘s dir wirklich?“ will Großmutter Lies wissen, weil sie auch was sagen will und in ihrem Sessel ein bisschen abseits sitzt.
„Oh ja“, ruft Jay etwas lauter. „Exzellent!“
„Du bist ein Gerippe geworden, Jay“, sagt Großmutter Lies.
„Die Engländer können nicht kochen“, sagt Jay.
Der Imker und Herr Rainer tauschen Blicke.
„Ich hätte in Frankreich landen sollen“, fährt Jay fort, ohne von der Suppe aufzusehen. „Man sagt, sie füttern selbst die Hühner mit Brot und Käse. Schlechtes Essen ist für die Franzosen ein Verstoß gegen die Menschenrechte.“
„Da ist wer draußen“, sagt Frau Rainer und alle werden sofort still. Selbst Jay hört auf zu löffeln.
„Piet?“, sagt Mama und geht zum Fenster.
Ein Mann winkt von der Landstraße herüber. Er steigt zwar nicht aus einem Auto, aber ist immerhin mit dem Fahrrad gekommen. Er hat es geschultert und kommt langsam den Hang hinauf.
Mutter hält sich die Hand vor den Mund. „Spring raus“, sagt sie zu mir, „lauf ihm entgegen.“
Ich renne auf den Mann zu, der sich durch den Schnee kämpft. Er ist ganz schwarz im Gesicht und trägt eine Mütze, aber er lacht und winkt mir zu. Ist das mein Vater? Es könnte auch nur der Schornsteinfeger sein. Ich weiß plötzlich nicht mehr genau, wie mein Vater aussieht und deswegen renne ich den Weg zurück zu Mutter. Mama rennt an mir vorbei und wirft sich dem schwarzen Mann in die Arme. Es ist ihr egal, dass sie ganz schmutzig wird. Es ist ihr egal, dass sie mit ihm in den Schnee fällt.
Hinter Mutter kommt Onkel Jay und hinter ihr die Rainers und hinter den Rainers sogar Großmutter Lies.
Der Mann stellt sein Rad in den Schnee und lacht. Man sieht seine weißen Zähne. „Bin einer kaputten Sturmhaubitze hinterhergefahren“ schreit er. „Auspuffschaden. 357 Kilometer. Hatte 69 Stürze bei dem Schnee!“
Jay nimmt ihn lange in den Arm.
Jetzt musst du wissen, das ist nicht mein Vater. Das ist Klaus, der jüngere Bruder von Mama und Jay. Du musst auch wissen, dass Großmutter Lies ihn besonders lieb hat, weil er der Kleinste ist. Du musst wissen, dass Mütter nicht aufhören, ihre Kinder wie Kinder zu lieben, auch wenn sie schon groß sind. Für Großmutter Lies ist Klaus noch immer der Kleine, obwohl er schon Siebzehn ist. Und außerdem war vor ein paar Wochen ein Brief gekommen, in dem stand, dass Klaus überhaupt nicht mehr nach Hause kommt.
„Musste doch pünktlich zu Weihnachten hier sein, sagt Klaus. „Landezeit 17.30 mitteleuropäische Zeit.“
Er hält sein Fahrrad hoch wie einen Pokal und stapft zum Haus, dahinter laufen Mutter, Jay, die Rainers mit dem Vogel und der Imker wie bei einer Prozession.
Großmutter Lies haut mir plötzlich auf den Kopf und sagt: „Es gibt einen Gott, merk Dir das. Wirst du je aufhören an ihn zu glauben, he? Wenn du je aufhörst, dann denke an mich. Weil: Es gibt ihn!“ Sie haut nochmal zu. Dann geht sie ins Bad und schnäuzt sich.
Wir haben jetzt zweitausend Bienen und einen Imker, zwei Rainers und einen Kanarienvogel, eine Mama, eine Großmutter und zwei Onkel im Bienenhaus. Ich fragte mich, wie Mama sie alle sattmachen will. Sie schickt mich raus zum Erdkeller, um den Rest unserer Kartoffeln zu holen.
In der Zwischenzeit hat Mama fünfmal Wasser heiß gemacht und Klaus in die Wanne gesetzt. Klaus hat mitgezählt. Sie hängt mein Bettzeug in der Küche auf als Sichtschutz, aber es hält sich keiner dran. Alle stehen um Klaus herum, der im Bottich sitzt und sich mit der Bürste schrubbt.
„Habe mich in den letzten 365 Tagen nur 126 mal gewaschen“ sagt er. „Aber 86 Flöhe geknackt. Übrigens hatte ich 499 Mückenstiche und das noch im Sommer. Wollte auf 500 kommen, aber die letzte Mücke wollte nicht.“ Er zeigt uns seinen Arm, auf dem er die Stiche umkringelt hat.
Mutter macht als Vorspeise Salat. Du musst wissen, dass sie Dill untermischt, damit man die Blattläuse nicht sieht. Ich muss ihn nicht essen, darf dafür aber nichts verraten. Auf dem Herd stehen echte Kartoffelklöße, Mehlschwitze und im Ofen schmort falscher Hase. Zum Nachtisch gibt es Bratäpfel, leider ohne Marzipan, aber dafür mit Nüssen und Zimt und englischer Vanillesoße. Und weil die Männer nicht satt geworden sind, öffnet Mutter die Weckgläser mit Erdbeeren, Kirschen und Mirabellen.
Plötzlich klopft es an der Tür.
„Ist das dein Vater?“ sagt Großmutter Lies. 
Mutter schiebt mich zur Tür.
Draußen steht ein Mann mit roter Wollmütze und einem Bart aus weißer Watte: „Hat man denn hier einen Schnaps für den Weihnachtsmann?“
Ich weiß, dass es Onkel Jay ist und er weiß, dass ich es weiß. Aber wir lassen uns nichts anmerken. Du musst wissen, dass ich nicht mehr an den Weihnachtsmann glaube. Aber ich weiß, dass es Mama wichtig ist, dass ein paar Sachen wie früher laufen. Der Weihnachtsmann schenkt mir das rote Hemd, das Mama aus unserer Fahne genäht hat und will mich „wegen der besonderen Umstände, in denen wir leben“, vor der Rute verschonen. Dann geht er aus der Tür und kommt einige Zeit später als Jay wieder herein.
„Onkel Jay“, rufe ich, „warst Du im Erdkeller beim Wein?“
„Ja, hat es etwas länger gedauert.“ Jay nimmt das Banjo und Klaus das Hackbrett und sie spielen einen Step. Mutter singt wie Marlene Dietrich in ein unsichtbares Mikrofon und die Rainers, der Imker, Großmutter Lies und ich applaudieren und Karsten ruft „piep!“. Weil alle nochmal Hunger haben, machen wir nochmal Bratäpfel und Mama und ihre Brüder machen noch mehr Musik und jetzt steht Großmutter Lies sogar aus ihrem Sessel auf und lässt sich von mir drehen.
Du musst wissen, es war das schönste Weihnachten, das wir je feierten. Das ganze Bienenhaus roch nach Honig. Am Ende schwoften sogar die Rainers. Wir tanzten und sangen die ganze Nacht. Und in ihren Körben summten die Bienen.  

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Der stille Senf singt