Bewegtes Leben
Ich stehe am Bahnsteig und warte. Das Gleisbett ist unbewegt. Es wogt nicht. Nicht, wenn ich hinsehe. Ich mag es, weil es ein schönes Wort ist. Und ich misstraue ihm, weil es ein schönes Wort ist. Nicht jeden Abgrund kann ich derart benennen.
Jetzt warten. Nicht auf dich. Das schon lange nicht mehr. Ich warte auf den Zug, der mich zu dir bringen soll. Ich kenne das Prozedere. Hoffen, dass er am angekündigten Gleis und in vorhersehbarer Wagonfolge einfährt, einsteigen, tagesmatt auf einen freien Sitzplatz sinken, in Stuttgart wieder aussteigen. Dort bin ich nie unerwartet von dir. Aber auch nicht regelrecht herbeigesehnt wie früher, als Anfang war und unsere Liebe über Bahnhöfe hinweg trug.
Mein Leben war vorher schon bewegt, aber seit wir unsere Beziehung zwischen Städten führen und ich mit der Bahn intimer geworden bin, als ich mir das hätte vorstellen wollen, seither sind die Kreise, die ich ziehe, weiter geworden, elliptischer. „Umlaufbahnen um die Sonne unserer Liebe.“
Es kann nicht wahr sein, dass ich das kurz nach unserem Kennenlernen, so aufgeschrieben habe.
Inzwischen regiert umständehalber ein Alltag, der sich seine Holprigkeit von schlecht gewarteten Schienentrassen geborgt haben mag. Eine nicht zu Ende gedachte Choreographie, dort wie da.
Was ist heute wieder? „Wegen eines Oberleitungsschadens...“ Dies soll kein Lamento werden. Ich sammle Gründe für Zugverspätungen wie früher Einträge in mein Poesiealbum. Ich muss sie nicht aufschreiben, bald kann ich sie allesamt in unterschiedlichen Stimmlagen mitsprechen. Bloß die Reihenfolge bleibt noch eine Überraschung. Die bunten Sticker, für die Einträge in mein imaginäres Album, borge ich mir von den Piktogrammen, die Farbgebung denke ich mir hinzu. Nicht für alles gibt es schon ein Zeichen. Von zehn Zugtoiletten sind drei in Betrieb. Auch „Heute nur Kaltgetränke“ bleibt unbebildert. Das BordBistro verspricht mannigfaltige Genüsse erst ab München. „Der Anschluss wird voraussichtlich nicht erreicht.“
„Das sind keine Beweggründe, das sind Stillstehgründe“ sagt der Anzugträger mir gegenüber. Im Zug werden so manche Hobbylyriker erweckt. Ich lächle milde, da mir längst nichts mehr einfällt. Die Begründungen sind in Wahrheit selten poetisch. Manchmal aber erfinderisch. Nur die ausgefallensten bringe ich dir mit nach Stuttgart, wo das Bahnhofsgebäude, dem die Flügel gestutzt wurden, das erste Dach unserer Begegnung war.
Heutzutage fahre ich allein bis zum Fuß der Halbhöhenlage. Bis ich angekommen sein werde, gilt es Zeit zu füllen. Ein Überquellen sollte stets vermieden werden. Unterhaltungen über Bahn-Missstände gehören mit zum Schlimmsten, womit man einen Großraumwagen ausfüllen kann. Gleich danach kommen Längenvergleiche von beruflichen Vitas, die darlegen, dass ein jeder in wichtiger Mission unterwegs ist. Manche glauben sich nur, was sie sich unentwegt vorsagen. Meist geht es um die eigene Unentbehrlichkeit im Firmengefüge am Horizont einer schlecht funktionierenden Welt. Das Bahnmanagement ein Beleg dafür.
Ich mag nicht zwischen Sitzlehnen vorführen, dass die Halbdrehung nach rechts weder kurz- noch langfristig zu einer Verbesserung führt. Kann nicht sagen: „Dann bleiben wir doch in unseren Zirkelschlüssen.“ Und denke: „Verantwortungsvoll wäre, wer Demut in sein Nachsinnen schwappen lässt.“
Zum Zeitvertreib denke ich mir Geschichten über Fahrgäste aus. Der hier mag ein Personalverantwortlicher sein. Das Lichten von Lebensläufen seine Leidenschaft. Er begibt sich forschend ins Dickicht fremder Bewegungen durchs Leben, weit davon entfernt, die eigenen zu verstehen.
Wiewohl ich vergleichsweise kaum mehr über mich weiß. Früher, vor uns, bin ich nie viel gereist. Bloß umgezogen. Mein Heimatgefühl immer reisefertig, ein fließender Stoff, der sich leicht ins Gepäck falten lässt. Der Hund an meiner Seite mein Anker. Der kam mit mir und passte auf mich auf, wo ich auch war. Zumeist in einer Fremde.
Ich denke schlecht über meinen Sitznachbarn, dass er das womöglich gar nicht kennt. Denke von ihm, als einem Dienstreisenden, der sich keiner Fremde je wahrhaft aussetzt. Einer, der das Gewicht der Welt auf seinen Schultern spürt, während sein Leben von beruflichen Zielen bewegt wird.
Ich kann freilich leicht reden. Ich trage nichts als das Gewicht unserer Beziehung und keine professionelle Karriere auf meiner Zugreise umher. Der Wirkungsgrad meines Werktags reicht keine hundert Kilometer, also nicht bis Stuttgart. Jedwede meiner Beobachtungen über die Fahrt und das Ankommen im sich selbst abschaffenden Bahnhof ist also lediglich mein Privatvergnügen.
„Die Ankunftshalle hat unsere Gedanken zu einem Spinnennetz verwoben, das die Hoffnungen einfängt.“ Diesen Satz lege ich dir in den Mund.
Der Stuttgarter Bahnhof hat ein jedes Mal ein anderes Gesicht. Seinen hundertsten Geburtstag wird er nicht unversehrt erleben. Momentan sieht er aus, wie für ein großangelegtes Versteckspiel konzipiert. Birgt sein Angesicht vor den einströmenden Fahrgästen, die sich ein jedes Mal neue Wege durch sein skelettiertes Dasein suchen. Viel ist nicht mehr übrig. Der alte Bahnhof untergraben, Brücken führen über die ausgehobenen Gruben in denen es werktäglich wuselt.
Das sind notwendige Veränderungen, heißt es. Für die Verbesserung des Verkehrsflusses müsse man, also wir, erst einmal Verschlechterungen der Beweglichkeit in Kauf nehmen. Leben ist Bewegung. Nur momentan vermindert. Das alles will ich schon einsehen. Aber eigentlich nicht.
Weltraumbehörden arbeiten daran eine neue Heimat zu finden, am unersättlichen Wunsch nach einem Aufbruch zu neuen Welten. Die Bahn aber erschließt sich allein Orte, die jeder bereits kennt, wenigstens dem Namen nach. Vergleiche bleiben nicht aus und sind selten gut. Die Plakate entlang der Fußgängerbrücken über die Baugrube zeigen Darstellungen von architektonischen Errungenschaften, die andernorts die Menschheit bereichern. Sie sollen gute Stimmung für den Neubau machen. Ich stimme nicht ein und fühle mich unbeteiligt. Das individuelle Befinden ein Politikum. Immer. Gerade hier in Stuttgart, wo viel geplant ist.
Ohne dich hätte mich die Auflehnung gegen diese Investition in Mobilität höchstens gestreift. Wie früher der Föhnwind, der von den Alpen herabfällt und ein wenig Kopfweh verursacht. Dank dir rührt mich der Stuttgarter Luftzug an. Selbst in der Halbhöhenlage weht hier ein diskreter Wind.
Der Widerstand lehnt an der nächsten Straßenecke und will mich nicht durchlassen. Ich lasse ihm die Freude und nehme einen anderen Weg.
„Würden alle dem Zwist aus dem Weg gehen“, sagst du.
Ich höre dich das sagen, dabei bist du gar nicht dabei. Nicht heute.
„Man kann nicht immer. Nicht überall“, sagst du.
Die Käfersilhouette prangt auf deiner Tasche. Ich stelle mir vor, wie du einst auf Kundgebungsbühnen gestanden, wie du vom Obenbleiben gesprochen hast. Die Zeit flackert hinter meinen Augen und lässt mich in der Tiefe unscharf sehen.
„Und jetzt?“, versuche ich mich selbst auf einen Boden zurückzubringen, dem ich hernach den Namen „Gleisbett“ geben kann. „Und jetzt?“
Jetzt sind die Wege zwischen uns solche ohne Zugfahrten geworden. Das geht nicht nur uns so. Wir tragen einen Mundschutz, und geben uns Mühe, uns nicht von Rechten beschränkt zu fühlen. Dabei wären andere Fragen als die Bestimmung unserer bürgerlichen Wehrhaftigkeit, viel brennender. Wie kommen wir mit kleingewordenen Bewegungen zurecht? Sind auch die Räume um unsere Herzen herum zusammengeschrumpft? Von der Küche ins Badezimmer, der Bewegungsradius kleiner als ein Bahnsteig, der zwar immer noch schmal, aber nun vergleichsweise weitläufig und vor allem sehr weit weg scheint.
Allein in unseren Träumen kommt der Stuttgarter Bahnhof noch lebhaft vor: Ganz oben im alten Gemäuer hängt das Spinnennetz. Wir können es nicht sehen, sondern dort nur vermuten. Die Decken sind trotz allem immer noch zu hoch, so bleiben alle Webspinnen und deren Netze vorgestellte. Dennoch sind sie da.
Wir hätten durchaus eine schützenswerte Spinnenart finden können. Aber nein, Eidechsen zwischen den Gleisen am Güterbahnhof. Und diese Käfer, deren Namen wir gleich wieder vergessen, auch wenn ihr Umriss auf Taschen und Shirts gedruckt ist. Zumindest die Eidechsen, solche friedlich an Mauern sich sonnende, sind niedlich. Alles wurde in den Lostopf geworfen. Doch alles half nichts. Zahlen wurden herumgeschoben wie auf einem Rechenschieber. Vorhersehbar, selbst in ihrer Unvermeidlichkeit. Die Ungereimtheiten potenzieren sich ganz von allein.
Da stimmt etwas nicht mit dem Neigungswinkel der Gleise. Auch das vorprogrammiert. Ich müsste meinen Kopf permanent schief legen wie damals mein Hund, um dich gut sehen zu können. Oder ständig aufschauend mich dir entgegenbewegen. Das würde jedem anderen als dir gefallen.
Die Überreste unseres Protests werden darin bestehen, uns in diesem Schlot niemals zu begegnen.
Darüber wachsen die letzten Erinnerungen, die wir an unsere Abfahrt oder Ankunft in Stuttgart haben, zu einer immensen Größe heran. Hundertschaften von Polizisten, die aufgeboten waren, um vor Fußballfans zu schützen. Zuweilen, wenn ich ankam, waren die Bahnsteige voller wogender Gruppen, die sich über ihrer Maskerade als Fans vergessen hatten. Dabei hatte keiner je einen Ball dabei. Ich ermahnte mich ständig, nicht laut zu sagen, dass ich den Beweggrund dieses Spiels nicht verstand.
Ich erinnere mich genau an meine letzte Zugfahrt. Mein Überlebenswille nahm freundlich grüßend neben dem Widerstand Platz. Noch kurz vor dem Losfahren presste ich die Nase an die Scheibe. Draußen würde, so oder so, bald eine Landschaft vorbeiziehen. Ich dachte beschämt an den Augenblick vor dem Einsteigen. Ich hatte es sehr wohl gesehen: Die Zivilcourage, taumelnd, war bewusstlos vor mir ins Gleisbett gefallen.
Ich hatte noch überlegt ihr nachzuspringen. Ernsthaft. Dann war mir eingefallen, was wir unseren Kindern, hätten wir welche, beibringen wollten, darüber, wie man seinem Leben Bewegung verleiht: „Du musst nicht erst fallen, um aufzustehen!“
Zuerst veröffentlicht in: zugetextet – Feuilleton für Poesie – Sprache – Streit - Kultur, Hg. Walther Stonet, Metzingen 2022 Anthologie zu den Wettbewerben 11+12, Shortlist 2021