„Etwas brennt, und ich erkenne mich darin“
Buchrezension (und heimliche Interpretation) von Sofie Morins Liebeleien mit Wuchsformen. Eine translibidinöse Pflanzenkunde
Etwas brennt, und ich erkenne mich darin. Sofie Morin nähert sich in ihrem zweiten Gedichtband den grünen Wuchsformen in knapp 30 Prosagedichten. Begleitet und erweitert werden sie durch Zeichnungen von Heinrich Steinfest, die gemeinsam mit der Poesie einen trans-artistischen Dialog anstimmen. Dass dieser Band ein relevanter Beitrag zum Nature Writing ist, liegt nicht nur an der poetischen Kraft und Genauigkeit der Autorin, sondern auch an seiner zugrundeliegenden Fragestellung: Wie nähern wir uns überhaupt diesen Naturdingen? So wenig menschlich und angeblich unbewegt sie auch sein mögen, so bedingen und ergänzen sie schon immer das menschliche Leben, und sind als Mitgeschöpfe nie ganz von uns getrennt.
Die Natur, das Pflanzliche, tritt in den Liebeleien geschlechterübergreifend auf, non-binär, queer. Gerade das Queere zeigt sich formschön in seiner wesentlichen Definition, nämlich sich der Definierbarkeit selbst zu verwehren.
Jenseits des Weges hat das Ausufern sein Habitat. Dort ist alles Erdung und Luft, die trägt. Die gläserne Musik der Halme fordert meine Hinwendung | ist ein Begehren | und ein Ehren.
Ziest wächst mir senkrecht ins Gedächtnis. Der abwesende Blütenduft eine heißersehnte Berührung. Meiner Nase den Fluchtimpuls vereitelt, die Begierde spielt Wind und greift mir unter den Rock. Mutter hat mir den Saum geendelt, aber ich halte mich längst nicht an ihre Maße. Bin schräg | darüber hinaus | gewachsen.
Was Queerness ist, im Menschlichen wie im Mit-Organischen, ist genau das Kreuzen dessen, was zuvor als „gerade“ konstruiert wurde. Das Queere besteht im Überschritt, Überschuss, und in der Erwartung der Möglichkeiten, die noch nicht denkbar sind. Das Natürliche, das sich selbst jeder Geradheit verwehrt, dient dem poetischen Ich als Denkanstoß und Begleiter:in.
Wollust, weiblich. Selbst solche Wege, die mir nie gewiesen wurden, habe ich verlassen, denkend an die Sümpfe, die mich umgeben und all das Organische darin.
In Anbetracht der Fülle und Vielschichtigkeit botanischer Lebensformen scheint es absurd, dass gerade das „Natürliche“ immer wieder als Fläche benutzt wird, ganz und gar sozio-kulturelle Thesen zu belegen. Die Geschlechterverhältnisse der Pflanzen und Tiere sollen mal hier, mal dort, die Zweigeschlechtlichkeit und gar Heterosexualität alles natürlichen Seins beweisen – wo solche Erzählungen doch vielmehr die Erbschaft regeln und die Care-Arbeit delegieren sollen. Indem die Autorin sich ins Pflanzliche stürzt, zeigt sich, dass es unseren bürgerlichen Vorstellungen schon immer entwachsen ist.
Mannbarkeit heißt es, sagt mir der Pfarrer [...], wenn Bäume die Reife erlangen, Früchte zu bilden. Mein Mund steht eine Viertelsekunde zu lange offen. Ich kann nicht sagen, ob unbemerkt, denn ich fürchte, er glaubt sich selbst, was er sagt.
Das Begehren, das Sofie in die Zeilen webt, ist nicht nur queer, sondern – wie im Vorwort angekündigt – „translibidinös“. Das Begehren, das die Pflanzen wecken, war schon vorher da. Die Pflanzen sind kein Sexualobjekt, das eine ebenso objektgerichtete Begierde auslöst. Sondern vielmehr sind sie Spiegel und Vorbild, erwecken sie Erinnerungen und befördern die Fantasie mit Düften, Fähigkeiten und Mythen, die um sie ranken. Auch dies lässt sich durchaus konter-patriarchal lesen; die besitzergreifende Objektlust wird einer ganzheitlichen Empfindung gegenübergestellt: einer Begierde nach dem Leben überhaupt. Das poetische Sprechen sucht eine Verschmelzung der Lebensformen, irgendwo eine Einreihung und Einswerdung der Poetin und Gebärenden mit dem Chlorophyll – immer im Wissen der Kluft zwischen Mensch und Pflanze. Immer wieder machen wir uns auf, das urwüchsige Chaos in Taxonomien einzuspeisen, Muster und Farben in letztgültigen Eingrenzungen zum Stillstand zu bringen, doch ganz ohne Absicht erweisen sie sich wehrhaft:
Blüten, violett gezeichnet von Schlangenlinien, nirgends getreu der Geometrie.
Besonders gelungen zeigt sich die Anklage einer vereinnahmenden Kultur in den „Vorwürfe[n] an einen Brautstrauß“ – ist ein Brautstrauß doch ein aufgeladenes und eingefädeltes Symbol für die Versprechungen und Implikationen der sozialen Organisation. Er figuriert hier als ultimative Einschreibung der Gängelungen ins Botanische, bis hin zur Fixierung des Lebendigen, das heißt seinem Tod.
Dieser Strauß, der selbst zerzauste Kornblumen | Rosarot! | noch mündig aussehen lässt, der Pfingstrosen nebst Passionsblumen in volle Blüte stürzt, ganz so, als hätte ein Blumenmaler sie allesamt ins Stillleben arrangiert: Die Jahreszeiten an den Pinsel verraten.
Die nicht arrangierten Gewächse hingegen bergen zwischen jeder Zeile ein nie greifbares Freiheitsversprechen. Wo die Gesellschaft das Individuum schafft, nur um es von sich selbst zu emtfremden, scheint die Natur in ihrer Ungerichtetheit und Urteilsfreiheit der letztmögliche Ort stiller Selbstverwirklichung.
doch manchmal | im Unterholz | lasst i'hr mich einfach sein.
Eingegraben ins engumzäunte Begehren der Institutionen scheint die Sicht dagegen versperrt. Die Mistel weist und weist in einen Himmel, den es nicht gibt. Anders der blühende, verheißende Blutklee, der seine Samen in die Weite schickt, ohne Erwartungen, Verlust- oder Versagensangst.
Unter freiem Himmel | da gäbe es | kein Zaudern.
Die Vorstellung allerdings, die die Pflanzen uns von einem freien Himmel geben, ist vielleicht eine illusorische: Ob und wie sie sich fühlen, geschweige denn frei fühlen, bleibt für uns ein Raum der Spekulation. Vielleicht bleibt Freiheit immer eine Idee, die wesentlich darin besteht, gegen das Gefangensein gerichtet zu sein. Vielleicht ist sie nur eine menschliche Hoffnung und Notdurft. In jedem Fall ist genau diese Bewegung des Sehnens ein wesentliches Moment des poetischen Schaffens überhaupt.
Wäre ich ein Gewächs, ich hätte mich bald ins Grün gekleidet, samt Blüten aus meinen florierendsten Momenten geknospt. Meine Zuversicht bildete das Innenfutter einer Wildnis, die ich selbst bewohne.
Betrachtete meine trockenen Stellen niemals mit einer geborgten Traurigkeit, sondern führte sie über die Witterungen hinweg zu einem chlorophyllhaltigen Gelingen. So wäre ich eine Blume.
Man kann den Pflanzen ihren Gleichmut beneiden, denn ihr unterlassenes Zögern verbürgt ihr Gelingen, ihre Resistenz und am Ende ihr Überdauern. Aber gerade im Reflektieren, Reuen wie im Scheitern und im Unperfekten liegt das Suchen und das ewige Sehnen, das die Poesie ist. Wo die Wuchsformen mit Farben und Formen triumphieren, ist die Poesie die dem Menschen eigene Schönheit.
Doch endet eine Reifezeit, darf die nächste beginnen, wird uns ebenso wenig ohne Poesie | sein | lassen. Und wäre ich: eine Blume.
Sogar unsere eher wilde Nachbarskatze Finchen gesellte sich während der Lektüre der Liebeleien unverhofft kuschelig zu mir – als wäre sie in die Stimmung der Mitgeschöpflichkeit gezogen worden, die dieser Gedichtband warm und freimachend auslöst. Meine raschelnden Gesten schienen mir darin ganz wichtig und ganz überflüssig.
Wir sprechen natürlich eine absolute Lese- und Kaufempfehlung aus! In diesem Review habe ich die Themenvielfalt des Bandes nur andeuten können; es bleibt noch viel zum eigenen Entdecken für jede:n Leser:in.
„Liebeleien mit Wuchsformen. Eine translibidinöse Pflanzenkunde“ ist im September 2024 bei Edition Arthof erschienen – in gebundener und wunderschön illustrierter Ausgabe.